Zitat Zitat von net.krel Beitrag anzeigen
"Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche - denn die Materie bestünde ohne den Geist überhaupt nicht - , sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre! [...] Gott."
Ja, dieser Satz hat weitreichende Konsequenzen, denen man sich eventuell nicht so ohne weiteres bewusst ist.

Einmal bezogen auf unsere Unterhaltung bzgl des Themas "Reich Gottes" heißt das nämlich nichts anderes, als das die Welt unserer Vorstellung, also die Welt in der wir leben und die wir gemeinhin als real betrachten, gar nicht real, sondern eben lediglich nur geschaffen, respektive konstruiert, aber letztlich eben substanzlos ist. Das Reale, Substantielle kennen wir also gar nicht, sondern wir kennen immer nur die geschaffene, konstruierte Welt unserer Vorstellung. Realität und Substanz steht dementsprechend nicht, wie allgemein angenommen, dieser Welt auf der wir leben zu, sondern real ist allein das Reich Gottes, dass dieser Welt unserer Vorstellung als Urgrund zu Grunde liegt.

Erkenntnistheoretisch müsste man also, wenn man dieser Vorstellung glauben schenkt, einen Konstruktivismus annehmen, bei dem, so hatte es Immanuel Kant ausgedrückt, sich die Erkenntnis nicht nach den (wahrgenommenen) Gegenständen richtet (also als reine Abbildfunktion), sondern andersrum, sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten. Die Gegenstände, die wir in jedem Moment wahrnehmen, haben also gar keine Substanz, sie sind sozusagen gar nicht wirklich und real, sondern sie werden erst im Erkenntnisprozess geschaffen, oder konstruiert. Und dementsprechend leben wir gar nicht in einer realen Welt, sondern in einer idealistischen. Ist das nicht faszinierend?

Allerdings und das muss ganz klar gesagt werden, geht es in den Wissenschaften gar nicht anders, als von einer realen Welt auszugehen. Allerdings würde ich es persönlich sehr begrüßen, wenn man neben den wissenschaftlich, materialistischen Lösungen, auch idealistische Lösungen verstärkt miteinbeziehen, oder zumindest, als plausibel, grundsätzlich möglich und sinnvoll betrachten würde.

Das Reich Gottes, als dieser Welt zu Grunde liegende Reich des Idealen, werden wir zwar niemals erkennen und es also auch nicht mit Begriffen bestimmen können, was unserem instinkthaften Bedürfnis nach überprüfbaren und konkreten Festlegungen zuwider läuft, weshalb es nur logisch ist, dass wir uns lieber im "Realen dieser Welt" aufhalten, aber besonders im Bereich des Religiösen und Spirituellen, sollte meiner Meinung nach der Idealismus wieder verstärkt gelehrt und bekannt gemacht werden. Denn im Grunde hat man irgendwann das Sein zugunsten des Seienden vergessen, wie Martin Heidegger meinte.

Aber leider wird in den Religionen, oder besser, im "klassischen Christentum", kaum noch philosophiert, weil es wohl so ist, dass vielen Christen die Philosophie "verdächtig ist". Lieber frönt man einem Biblizismus ohne "echte Philosophie", was insbesondere allein deshalb schon sehr schade ist, weil man im Mittelalter schon einmal sehr viel weiter war und ohne Probleme Aristoteles, Platon und andere Philosophen in sein Denken und seine Bibelauslegung miteinbezog. Für mich persönlich, wie könnte es anders sein, kam die christliche Philosophie mit Meister Eckhart zu ihrem Höhe- und leider auch Endpunkt, weil er nun einmal der Inquisition zum Opfer fiel. Aber wenn man sich mit Eckhart beschäftigen möchte, dann muss man sich fast zwangsläufig auch mit der Philosophie, insbesondere dem Neuplatonismus beschäftigen, damit man ihn richtig verstehen kann. Das haben damals schon die Ankläger von Eckhart nicht berücksichtigt, weshalb sie ihn folgerichtig auch falsch verstehen mussten. Und heute, besonders auch in evangelischen und evangelikalen Kreisen, mag man von der Philosophie meist gar nichts mehr wissen, weshalb es unter anderem auch zunehmend schwierig wird, kritische Geister für den christlichen Glauben zu gewinnen und sich der Atheismus, zumindest in Europa, immer weiter ausbreitet.

Würde man die Menschen, anstatt sie von ihrer grundlegenden Sündhaftigkeit überzeugen zu wollen, zunächst einmal mit dem Platonismus und Neuplatonismus vertraut machen, würden sich sicher auch wieder mehr Menschen mit dem christlichen Glauben identifizieren können, weil der (Neu)Platonismus ganz einfach auch ein ganz anderes Gottesbild lehrt (Stichwort "negative Theologie"), als die Menschen für gewöhnlich haben. Der gemeinhin im christlichen Glauben gelehrte "positiv wissbare" Gott, dem allerlei Attribute wie z.B. Allmacht zugesprochen wird, ist heutzutage nämlich (zu Recht, wie ich finde) kaum noch einem denkenden Menschen vermittelbar und ganz einfach verdächtig geworden, so dass er folgerichtig auch zunehmend als "Hirngespinst" betrachtet wird.

Sollte es also eine Krise im christlichen Europa geben, dann liegt das meiner persönlichen Meinung nach auch ganz einfach daran, dass wir aufgehört haben zu philosophieren und die Menschen nicht mehr für die Philosophie begeistern können. Platt gesagt könnte man deshalb auch sagen: Es ist unsere eigene Schuld, wenn heute immer weniger Menschen zum christlichen Glauben finden und wenn Jesus heute wieder zurückkäme, um mal auf das Thread Thema zurückzukommen, dann würde ich ihn gerne fragen, ob er denn einverstanden und glücklich damit ist, was wir Menschen aus seiner Lehre gemacht haben...

LG
Provisorium