Ist Jesus auch der Messias der Juden?


Von Hanspeter Obrist

Für rabbinisch orientierte Juden war und ist die christliche Sicht des Messias inakzeptabel und zwar aus folgenden Gründen (nach „Der Messias“ von Nathan Peter Levinson, Kreuz Verlag):

1. Als König Israels hätte er das Volk von der römischen Unterdrückung befreien und das frühere Königreich wiederherstellen müssen. Jesus muss eine große Enttäuschung gewesen sein, da sich politisch nichts änderte und kein sichtbares Friedensreich entstand.

2. Für talmudisch orientierte Juden konnte Jesus nur ein Ärgernis sein, weil er als Heiland stellvertretend die Sünden vergab und die Gebote der Tora neu interpretierte.

3. Die göttliche Menschwerdung in Jesus und die Lehre der Einheit mit Gott dem Vater und dem Heiligen Geist konnte von der strengen, einseitigen Interpretation des Monotheismus nur als Abfall vom jüdischen Glauben gedeutet werden. Daher kann Jesus aus jüdisch-rabbinischer Sicht höchstens als Messias für die Christen (Heiden) akzeptiert werden.



Verunsicherung bei den Jüngern

Auch die ersten Jünger waren vor Jesu Auferstehung verunsichert und fragten sich, ob er nun wirklich der verheißene Messias gewesen sei. So erschien ihnen Jesus, z.B. auf dem Weg nach Emmaus, und erklärte ihnen die Schriften des Tenach (AT), und dessen Aussagen über ihn (Lukas 24,13 - 35).



Sehnsucht nach einem Messias

Die Sehnsucht nach besonders begnadeten Persönlichkeiten, die uns von den Übeln dieser Welt erlösen und in ein „verheißenes Land“ oder ein „goldenes Zeitalter“ führen, ist ein uraltes Bedürfnis des Menschen. Die Hoffnung auf einen göttlichen Messias (Gesalbten) hat religionsgeschichtlich seinen Ausgangspunkt im Judentum, wo es unzählige unterschiedliche Messiasgestalten gibt (siehe auch den Artikel zu diesem Thema im letzten Messianischen Zeugnis).



Was ist ein Messias?

Der Ursprung des messianischen Begriffs ist in 3.Mose 4,3 zu finden. Dort bezieht sich der Begriff auf den gesalbten Priester. Das gleiche Wort wird später auch für Könige und Propheten verwendet. Sogar der König von Persien (Cyrus) wird vom Propheten Jesaja als „Messias“ angesehen, da er eine göttliche Aufgabe zu erfüllen hatte (Jesaja 45,1). Ein Messias ist also eine gesalbte Person mit einem göttlichen Auftrag, der nach jüdischer Auffassung nur für die irdische Herrschaft zuständig ist.



Der einzigartige Messias

Im Tenach (AT) schwang jedoch auch immer die Erwartung auf einen besonderen Messias mit, der grundlegende Veränderungen einleiten würde. Er sollte einerseits dem Volk Israel sowohl politisch als auch geistig die vollkommene Erlösung und andererseits der gesamten Menschheit moralische Vollkommenheit bringen.



Jüdische Vorstellung über den Messias

Nach jüdischer Vorstellung wird die Rückkehr zu Gott durch das Blasen des Schofars (Widderhorn/ Horn des Messias) eingeleitet. Auf die Reue des Volkes folgt dann die Erlösung. Die Stämme Israel und Juda werden wieder vereinigt, die Verstoßenen kehren aus dem Exil zurück, Harmonie und Friede wird auf Erden herrschen. Gemäss einiger Propheten wird materieller Überfluss herrschen, der Boden wird fruchtbar sein, Kranke und Behinderte werden gesund und das menschliche Leben verlängert werden. Gotteserkenntnis breitet sich überall aus. Ein neues Herz und ein neuer Geist werden erschaffen. Hesekiel spricht andererseits auch vom endzeitlichen Kampf gegen Gog und Magog, der mit dem Sieg Gottes endet. Ihm folgt die Auferstehung der Toten, wobei die Gerechten zum ewigen Leben, die Frevler aber zu ewiger Finsternis erwachen werden. Das Ziel ist, den Menschen ins verlorene Paradies zurückzuführen, wie es Jesaja 11,6 - 9 schildert.



Der Messias als Heiland

Nach rabbinischer Auffassung wird der Messias nicht als gnädiger Heiland einer einzelnen Seele angesehen, sondern als Herrscher, der für Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgt und Frieden zwischen den Völkern stiftet. Damit das Friedensreich des Messias kommen kann, bedarf es der Anstrengung des Menschen und der tätigen Reue und Rückkehr zu Gott. Die Vorstellung eines himmlischen Gnadengeschenkes ist dem rabbinischen Denken fremd.



Ben Joseph und Ben David

In der rabbinischen Literatur kam es zur Annahme von zwei Messiasgestalten: Dem Messias Ben Joseph und dem Messias Ben David. Zuerst wird der Messias Ben Joseph die Verstreuten sammeln und den Tempeldienst in Jerusalem wieder einrichten. Er wird beim Angriff der widergöttlichen Mächte Gog und Magog erschlagen werden und sein Körper wird unbeerdigt in den Strassen Jerusalems liegen bleiben. Nach einer anderen Überlieferung wird er in himmlische Sphären entrückt werden. Schließlich folgt die endgültige Erlösung durch den Messias Ben David.



Messiaserwartungen zur Zeit Jesu

Um Christi Geburt gab es drei unterschiedliche Messiaserwartungen. Die Sadduzäer lehnten jede übernatürliche Einwirkung ab. Die Pharisäer hofften auf eine endzeitliche Erlösung, die sich aber in der Realität unmittelbar beweisen musste. Die Essener und später auch die ersten Christen setzten auf eine geistliche Realität, die sie im Glauben annahmen wie Abraham, auch wenn die wörtliche Erfüllung noch ausstand.



Gott steht zu seinem Wort

In der Bibel wird die Erfüllung der Verheißungen immer erwartet, weil Gott zu seinem Wort steht. Doch sie berichtet auch davon, wie manche Menschen lange auf die Erfüllung einer Verheißung warten mussten oder sie gar nicht mehr erlebten, wie das bei Abraham oder auch bei den Propheten der Fall war. Doch es waren gerade diese Menschen, die Gott wegen ihres Vertrauens besonders hervorhob und segnete.



Vernichtung des Bösen

Bereits im Paradies richtete Gott den Blick darauf, dass der Kopf der Schlange zertreten werden muss und sich dabei ein Nachkomme der Frau verletzen wird (1.Mose 3,15). Das Heil wurde von Anfang an nicht in einer heilen Welt in Israel gesehen, sondern in der Überwindung des Bösen. Mit dem Angebot der göttlichen Gnade in Jesus wurde der Weg frei, sich das Heil nicht selbst zu schaffen, sondern es dankbar anzunehmen. Vergebung muss nicht erwirkt werden, sondern darf empfangen werden. Damit verliert das Böse die Macht. Das Gesetz ist nicht mehr Forderung, sondern Wegweisung und Richtschnur. Gott hat uns zuerst geliebt, sogar als wir ihm noch feindlich gesinnt waren. Indem er uns zuerst beschenkt, werden wir fähig, seine Liebe zu erwidern. Diese Liebe prägt nun auch das Verhältnis zu unserem Umfeld. Denn Liebe will den anderen nicht besiegen, sondern für die Liebe werben.



Göttliche Einheit

Die göttliche Einheit zwischen Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist muss dabei kein Hindernis sein. Sie bleibt in ihrer vollen Gestaltung ein Geheimnis für uns. Auch schon in der Tora wirft die Erscheinung Gottes Fragen auf. In 1.Mose 18 wird davon berichtet, dass JHWH Abraham besuchte. Abraham hieß drei Männer willkommen. In Vers 22 heißt es dann, dass sie sich später auf den Weg nach Sodom machten. In Kapitel 19,1 spricht die Bibel von zwei Engeln, die in Sodom ankamen, und dass Abraham aber immer noch mit JHWH sprach (1.Mose 18,22ff). Gott erschien ihm also als Mann und aß bei dieser Begegnung sogar Kalbfleisch mit Rahm und Milch (1.Mose 18,8). Wenn Gott hier als Mensch erscheinen konnte, warum sollte es ihm nicht möglich sein, in Jesus auf die Welt zu kommen?



Schon Jesus wies auf das göttliche Geheimnis hin. Er fragte die Pharisäer, wie David Christus seinen Herrn nennen könne, wo dieser doch sein Nachkomme sei (Matth. 22,41-46). Hier können wir uns nur wie Abraham im Vertrauen auf Gott einlassen, auch wenn wir mit unserem Verstand diese Dimension nicht erklären können.



Psalm 22

In Psalm 22 beschreibt David in einer Vorausschau, was sich am Kreuz ereignete. Es ist beachtenswert, dass David den Kreuzestod so exakt beschreiben konnte, obwohl diese Art der Hinrichtung erst rund 500 Jahre später von den Persern erfunden und dann von den Römern übernommen wurde. Jesus selbst zitierte die ersten Verse dieses Psalms am Kreuz. Inhaltlich beschreibt dieser Psalm exakt seine Situation: Die Leute spotteten über ihn (V 7). Sie riefen, er solle sich doch selbst helfen, wenn er der Messias sei (V 8-9). Ihn dürstete (V 16). Sie durchgruben seine Hände und Füße (V 17). Sie würfelten um seine Kleider (V 19). Er wurde nicht durch das Schwert getötet (V 21). Durch seine Botschaft wurden Menschen dazu bewegt, Gott zu dienen (V 23-32).



Vor der Zerstörung des Tempels

Laut Daniel 9,26 wird der Gesalbte (Messias) sterben, bevor das Heiligtum und die Stadt zerstört wird. Mit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. wurden alle Familienstammbäume vernichtet. Niemand kann heute seine direkte Abstammung von David belegen. Für die Schriftgelehrten zur Zeit Jesu wäre es leicht gewesen, seine Messianität abzusprechen, wenn seine Abstammung in Frage gestellt hätte werden können.



Jesaja 53

Es liegt deshalb nahe, in Jesus die Person zu sehen, die Jesaja so beschrieben hat (Jes. 53,4-5): „Jedoch unsere Leiden – er hat sie getragen; und unsere Schmerzen – er hat sie auf sich geladen. Wir aber, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt. Doch er war durchbohrt um unserer Sünden willen. Die Strafe lag auf ihm zu unserem Frieden und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden.“

http://www.amzi.org/html/jesus_der_messias.html