Warum lässt uns denn Gott also scharf die zehn Gebote predigen, weil sie in diesem Leben
niemand halten kann?



Allhier fällt noch eine andere Frage vor: So wir das Gesetz Gottes nicht halten können, warum lässt denn Gott seine zehn Gebote so scharf predigen?


Antwort: Ob man wohl dasselbe im Leben nicht vollkommen halten kann,
so hat doch die Predigt desselben ihren großen Nutzen beides bei denen, welche nicht wiedergeboren, wie bei denen, welche schon wiedergeboren sind. Den Gottlosen wird das Gesetz gepredigt zum Zeugnisse wider sie, damit sie keine Entschuldigung haben vorzuwenden. Denn indem sie hören, wie Gott diese und jene Sünde verbiete und hart strafen wolle und sie doch davon nicht wollen abstehen, wird ihre Verdammnis desto schwerer. Und eben auf solche Weise wird den Gottlosen das Gesetz oft mit großem Nutzen vorgetragen. Ein Exempel haben wir Apg. 2,37. Als Paulus den Juden, die Christum hatten gekreuzigt, das Gesetz gepredigt, ging’s ihnen durchs Herz und wurden dreitausend bekehrt. So mancher Gottlose weiß oft nicht, dass dieses oder jenes eine große Sünde sei, darin er doch bis über die Ohren steckt. Wann er die Gesetzpredigt hört, geht er manchmal durch Gottes Gnade in sich und wird bekehrt.




Bei den Bekehrten aber hat die Predigt des Gesetzes ihren besonderen Nutzen. Denn erstlich lernen sie daraus ihre sündliche Art je länger je besser erkennen, bespiegeln sich darin, wie weit es ihnen fehle zu der Vollkommenheit, seufzen darüber und demütigen sich herzlich, wenn sie hören den Fluch des Gesetzes, der über sie gehen sollte. Hiervon schreibt der Apostel Röm. 3,20: Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünden, und Hebr. 7,19: Das Gesetz konnte nicht vollkommen machen. Darum zeigt es uns an unsere Unvollkommenheit, denn es ist ein Spiegel zart, der uns zeigt an die sündlich Art in unserm Fleisch verborgen. Davon Frage 3. des Katechismus. Fürs andere, wenn die Menschen aus dem Gesetz ihre Unvollkommenheit erkannt, tragen sie ein desto begehrlicher Verlangen nach dem Heilbrunnen Jesu Christo. Denn gleichwie ein Kranker, der die Gefährlichkeit der Krankheit fühlt und merkt, nach dem Arzte ein begehrliches Verlangen trägt, also verlanget auch recht nach Christo die, welche ihre Sünde recht erkennen. Denn die Kranken bedürfen des Arztes Matth. 9,12. Daher wird das Gesetz genannt ein Zuchtmeister auf Christum Gal. 3,24. In diesem Christo werden wir für vollkommen gerechnet. Da wir nun verstehen, was das Gesetz von uns fordert, und wir dennoch jederzeit mit Ungeduld, Zorn, Hass, Unreinigkeit, bösen Gedanken und Lüsten angefochten werden, so lasst uns darum nicht verzagen, sondern zu Christo in wahrem Glauben unsere Zuflucht haben, in welchem die Gläubigen sind vollkommen.



Zuletzt so ist das Gesetz uns auch eine gewisse Form und Regel, danach wir unser Leben sollen anstellen, damit wir nicht irre gehen, sondern wissen, wie wir Gott dienen und welcher Werke wir uns befleißigen sollen. Denn obwohl die Gläubigen das Gesetz Gottes nicht vollkommen halten können, so begehren sie doch nicht, Freiherren zu sein und zu exorbitieren, sondern der Gerechte redet vom Gesetz des Herrn Tag und Nacht Ps. 1,2. Dein Wort ist meiner Füße Leuchte auf meinem Wege Ps.119,105.



Weil aber dieses alles in unseren Kräften nicht stehet und mancherlei Hindernisse uns vorfallen, müssen wir Gott hierin anrufen um die Gnade des H. Geistes, dass Er uns je länger je mehr zu seinem Ebenbilde wolle wiedergebären. Denn eben darum befiehlt uns Gott zu tun, was wir nicht tun können, auf dass wir wissen, was wir von ihm bitten sollen, sagt der alte Lehrer Augustinus, bis wir das Ziel der Vollkommenheit nach diesem Leben erreichen werden. Denn es ist und bleibt doch hier alles stückweise. Wann aber das Stückwerk wird aufhören, alsdann wird darauf die gewünschte Vollkommenheit erfolgen.



Also sehen wir, dass das Gesetz uns niemals ohne Nutzen geprediget werde, ob wir schon dasselbe nicht vollkommen halten können. Ja, es ist eben die Predigt des Gesetzes uns ein Exempel der göttlichen Liebe gegen uns. Denn so lange noch der Arzt dem Patienten ein Rezept vorschreibt, so lang ist noch Hoffnung des Lebens und der Besserung mit ihm. Wann er aber mit dem Schreiben nachlässet, hebt es an übel zu stehen mit dem Patienten. Eben also schreibt uns Gott unser himmlischer Arzt alle Tage in der Predigt seines Gesetzes vor, was wir halten und lassen sollen, auf dass wir uns bessern und bekehren und eingehen durch die enge Pforte, bis wir das vorgesetzte Kleinod ergreifen.



Wer vor solchem Worte: der Gott des Friedens mache euch fertig, d. i. vollkommen
in allem guten Werk, zu tun seinen Willen Hebr. 13,20.21, zittert und es anerkennt, wie not es ihm
taut, dazu angetrieben zu werden, der wirft die Zucht nicht hinweg, sondern lässt sie an sich herankommen; – dem ist es nicht genug, dass er, wo er voll Zorn, Zank, Zwietracht, Unehrlichkeit, Unkeuschheit steckt, sich selbst tröstet mit Vergebung der Sünden, sondern er gedenkt unserer 115.
Frage, mit andern Worten: warum lässt uns Gott also scharf solche apostolische Worte vorhalten?
Da ist denn die Antwort: auf dass wir unser ganzes Leben lang – denn das hört nimmer auf, wir haben unser ganzes Leben lang genug damit zu tun! – unsere sündliche Art – also nicht allein, was aus
dem Munde hervorgeht oder zur Tat wird, nein, wir sollen unsere Art erkennen, was für eine Art wir
sind, auf dass wir uns selbst in keinem Stücke vertrauen, auch dann nicht, wenn die Sünde bei uns
schläft, wenn wir äußerlich artig, ehrbar, bescheiden, keusch, züchtig uns benehmen, – dass wir
auch dann uns selber nicht trauen. Also: dass wir je länger je mehr – das geht nicht plötzlich, nicht
mit einem Male, nicht mit einem Griffe, es hört nicht auf damit, – also je länger je mehr erkennen.
Von dieser Schulbank kommen wir nicht weg, auch wenn wir achtzig und hundert Jahre alt werden.
Und so viel desto begieriger Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit in Christo suchen. Sind wir
dann fertig? Es folgt noch etwas. „Danach, dass wir ohne Unterlass – denn ohne Unterlass spukt
die unglückselige Art – uns befleißigen und Gott bitten usw. – es geht auch das nicht wiederum mit
einem Schlage und Griffe, – dass wir je länger je mehr usw




Kirche des lebendigen Gottes, ruft der schottische Prediger Horatius Bonar uns zu, lass dich warnen! Habe kein Wohlgefallen an dir selbst, wie auch Jesus nicht sich selbst zu Gefallen lebte und handelte. Lebe ihm, nicht dir – deinem Herrn, nicht der Welt. –



Warum hat uns Gott, fragt Johann Milchioris, wohl das Straucheln seiner Heiligen in seinem Worte lassen vorstellen? Nicht, dass es dienen sollte zur Beschönigung deiner Sünden, sondern dass es dir eine Furcht und Sorge sollte einjagen, damit du stets bei dir gedächtest: ist dieses solchen großen Männern so ergangen, wie muss ich dann nicht auf der Hut stehen, indem ich weit gegen sie zurückstehe.



Wie es einem Armen geht, bekennt Thomas Watson, der stets im Munde führt seine Dürftigkeit: so geht es den Armen am Geiste. Er klaget stets über sein Gebrechen: Mir mangelt ein zerbrochenes Herz, ein dankbares Herz. Er macht sich selbst zum ärmsten Geschöpf auf der ganzen Erde; ob er schon das Werk der Gnade an sich nicht kann leugnen, klaget er dennoch, dass er nicht mehr Gnade habe. Hierin besteht der Unterschied zwischen einem Heuchler und einem Kinde Gottes. Ein Heuchler redet allezeit vom Demjenigen, was er hat, ein Kind Gottes klaget über das, was ihm mangelt. Der eine ist fröhlich, dass er so gut ist, der andere traurig, dass er so böse ist.



Eben das ist eine Anzeigung, dass Gottes H. Geist in dir wohne, durch dessen Trieb du ein Missfallen hast an deiner noch übrigen Unart und Schwachheit, verlangest auch und seufzest nach der Vermehrung der Gnade Gottes, denn solches alles kommt nicht von Fleisch und Blut, sondern von dem Geiste, welcher genannt wird der Geist der Gnaden und des Gebets (Sach. 12,10), welcher in unseren Herzen schreiet: Abba, lieber Vater. Denn solche Weisheit kommt nicht in eine boshaftige Seele und wohnet nicht in einem Leibe der Sünde unterworfen, also nämlich, dass er mit ganzem Vorsatz und mutwillig derselben nachhange. Nun findest du ja bei dir, liebe Seele, dass du nicht boshaftig und vorsätzlich in Sünden lebest, noch derselben dich zu Dienst ergibst, sondern du kümmerst dich über deine Sünden, es ist dir leid, dass du nicht heilig genug leben kannst und strebest eben darnach, dass du wachsest und zunehmest im Glauben und in der Gottesfurcht. So sei demnach getrost und versichert, dass du gewiss und wahrhaftig ein Tempel Gottes seiest und der H. Geist in dir wohne, durch dessen Kraft du von Tag zu Tag je länger je mehr wirst erleuchtet und auf ebener Bahn geführet werden (1. Kor. 3,16; Ps. 143,10). Lass aber nicht nach, Gott fleißig um die Vermehrung der Gnaden und Gaben des H. Geistes anzurufen, suche, bitte, klopfe an, betrachte ohne Unterlass Gottes Wort, dadurch der Glaube und die Gottesfurcht in dir erweckt wird. Gebrauche fleißig die H. Sakramente, welche zur Stärkung des Glaubens sind eingesetzt, und übe dich ohne Unterlass im Fleiß guter Werke und in dem heiligen Kampf wider die Lüste des Fleisches und die bösen Anreizungen der Welt, so wird auch der Anfänger und Vollender deines Glaubens, Jesus Christus, dir beistehen, in deiner Schwachheit mächtig sein und dir herrlich überwinden helfen.



Ob du auch zuweilen von dem sündlichen Fleische übereilt wirst und strauchelst, und so geraden Fußes nicht fortkommen kannst im Laufe der Gottseligkeit, wie du wünschest, so erinnere dich allezeit wiederum, dass es in diesem Leben mit uns eitel Stückwerk ist und wir täglich an uns zu bessern haben. Darum sei zwar nicht kleinmütig, werde aber auch nicht sicher, sondern tue alle Tage neue Buße, bessere alle Stund und Augenblick dein Leben und fahre fort mit der Heiligung in der Furcht Gottes, um so viel desto gewisser und freudiger, weil Gott dir gewisslich beistehen und dich aus seiner Gnade durch den Glauben bewahren wird zur ewigen Seligkeit.



Der schottische Prediger Robert Murray M’Cheyne schreibt 1841 an eine heilsbegierige Seele! Mir wird selten mehr als ein flüchtiger Einblick in meinen wahren Seelenzustand gewährt. Erhalte ich ihn aber, so sehe ich, dass ich elend und jämmerlich, arm, blind und bloß bin. Offb. 3,17. Der 1841 zu Ichenheim im Badischen gestorbene Pfarrer Georg Adam Dietz bat auf seinem letzten Krankenlager seinen ihn besuchenden Nachbar: Lieber Bruder, sage es an meinem Grabe, dass ich auf gar nichts baue, als auf die Barmherzigkeit meines Herrn. Ich flehe um nichts, als um die Gnade, die dem Schächer widerfuhr, ja nur Schächersgnade.