Hallo Martin,
hier nun meine Antwort. Zunächst ein kleiner philosophischer Ausflug. Mir schien er notwendig, um meine Aussage, dass "Religion als Rückbindung an das Göttliche muss "systematisch" erfahrbar sein, wenn sie denn Realität sein soll", zu erörtern. Denn grundlegend für diese Aussage ist mein Gottverständnis.


Die Wahrnehmung unserer Umwelt und unserer selbst zeigt uns nicht nur, dass da etwas ist, sondern zeigt uns zugleich den Wandel.
Der Schnee bei uns vor dem Haus schmolz heute tagsüber. Schnee wurde zu Wasser. Oder H2O wandelte sich von einer festen zu einer flüssigen Form. Dieser Wandel des Aggregatzustandes wurde durch steigende Temperaturen verursacht.
In der Pubertät haben unsere Körper eine deutliche Veränderung durchlaufen. Verursacht durch Hormone.
Unsere Persönlichkeit hat sich im Laufe des Lebens verändert. Neben den hormonellen Ursachen in der Pubertät waren Erfahrungen ursächlich. Erfahrungen, die uns hart, mitfühlend, geizig oder großzügig werden lassen.
Unser Körper wuchs (bzw. wächst), weil Hormone und Nährstoffe dies verursachen. Das Wachstum unseres Körpers ist im Umkehrschluss von diesen Faktoren abhängig. Der Aggregatzustand eines Stoffes ist abhängig von Temperatur und Druck. Wandeln sich diese kann der Stoff seine Form nicht beibehalten. Unsere Persönlichkeit, unser Charakter hat sich so entwickelt, wie er sich entwickelt, weil unsere u.a. Sozialisationsbedingungen so waren, wie sie waren. Es macht einen Unterschied, ob wir in einer europäischen Wohlstandsnation heranwuchsen, oder in den Slums der sogenannten Dritten Welt.
Allen Formen und Eigenschaften liegt eine Kausalität zugrunde, die diese bewirkt. Kausalität impliziert immer auch Abhängigkeit im Sinne von: A hat nur seine Erscheinungsform, weil es B gibt. A ist in seiner Erscheinungsform abhängig von B. Eine andere Ernährungslage, andere Einflüsse aus der Umwelt, und wir wären nicht so wie wir heute sind. Im Guten, wie im Schlechten.
Neben diesem Kausalitätsaspekt in Bezug auf Form und Eigenschaft wurde auch ein anderer Aspekt festgestellt. Wasser mag kalt oder warm sein, fest oder flüssig. In jedem Fall existiert es. Und das jenseits dieser wandelbaren Eigenschaften. Wasser hat ein Da-Sein jenseits des Wie-Seins. Genauer betrachtet bleibt dieser Gedanke zu ungenau. Denn Wasser kann ausgespalten werden zu Wasserstoff und Sauerstoff. Und diese bestehen wiederum aus noch kleineren Teilchen etc. Dennoch finden wir auf allen Ebenen, dass etwas ein Da-Sein hat, unabhängig davon, wie es ist.
Wir haben gesagt, dass Formen und Eigenschaften der Kausalität unterliegen. Also eine Ursache haben, von der sie, die sie Wirkung dieser Ursache sind, abhängig sind. Kann Gott nun eine Ursache haben? Also eine (Aus-)Wirkung von etwas sein? Wenn ja, dann könnte Gott der alte Mann mit Rauschebart sein. Und auch ein (der) liebe Gott könnte er dann sein. Auch könnte man dann sagen, dass Gott maskulin oder feminin ist. Aber Gott wäre dann Auswirkung von etwas. Und dann wäre Gott kausal abhängig.
Interessanterweise finden wir sowohl in der Bibel, als auch im Koran ein Verbot Gott bildlich darzustellen. Eine bildliche Darstellung würde Gott zwangsläufig eine Form zuschreiben. Und auch eine Zuschreibung von Eigenschaften ließe sich kaum vermeiden.
Formen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Umgrenzungen haben. Mein Körper befindet sich innerhalb meiner Haut, die eine Grenze darstellt.
Eine Allgegenwart scheidet für eine Form in ihrer Be-Grenztheit per se aus.
Die moderne Physik sagt uns, dass Zeit und Raum keine präexistenten Phänomene sind, sondern infolge des Urknalls entstanden. Wenn Gott ein jenseits von Kausalität stehendes sein soll, kann Gott weder mit Raum noch mit Zeit gleichgesetzt werden. Die Aussage, Gott sei allgegenwärtig, wäre ebenfalls falsch, da sie einen Raumbezug herstellt. Abgesehen davon, dass „allgegenwärtig“ eine Eigenschaft ist, und die Eigenschaftbehaftetheit Gottes oben schon abgelehnt wurde. Ist Gott nun form- und eigenschaftslos? Formlosigkeit und Eigenschaftslosigkeit sind ihrerseits wieder Eigenschaften. Letztlich landen wir bei der sogenannten Negativen Theologie: Wir können letztlich keine Aussagen über Gott machen. Etwas jenseits von Raum und Zeit kann unser Verstand nicht fassen. Aussagen über Gott sind Notbehelfe, um über Gott kommunizieren zu können. Überlegungen über Gott sind Notbehelfe, die uns bedingt helfen können, Irrtümer zu vermeiden.
In diesem Sinne mein Versuch etwas in Worte und Überlegungen zu fassen, was sich in diesen letztlich nicht fassen lässt.
Oben hielten wir fest, dass Gott nicht begrenzt sein kann, da Begrenztheit Abhängigkeit von etwas bedeuten würde. Wenn es aber keine Grenze gibt, gibt es keine Grenze zwischen Gott und Schöpfung. Gott kann nicht außerhalb von etwas sein. Weder Atome, noch ihre Bestandteile, noch ihre Hüllen noch der Raum zwischen ihnen ist frei oder leer von Gott. Andersherum: Nichts ist außerhalb von Gott. Kein Gedanke, kein Gefühl, kein sonst was. Jeder kleinste Bestandteil unseres Wesens ist in Gott und Gott in ihm. Da ist keine Trennung. Um einen Vergleich zu nehmen: Es gibt unzählige Wellen im Meer. Und keine könnte mit Recht sagen, sie sei das Meer. Aber sie alle sind Teil und Ausdruck des Meeres.
Wenn Gott nicht außerhalb von seiner Schöpfung ist, kann Gott die Schöpfung auch nicht außerhalb von sich geschaffen haben. Gott muss alles aus sich selbst heraus geschaffen haben. Alle (Existenz-)Formen, alle Eigenschaften. Gott ist Schöpfer und Schöpfung zugleich. Gott ist zur Schöpfung geworden, und muss doch mehr sein. Denn eine Gleichsetzung „Gott = Schöpfung“ würde Gott auf Raum und Zeit begrenzen.
Diese Vielheit der Schöpfung, all diese Erscheinungsformen sind Ausdruck Gottes. Weshalb es unmöglich ist Gott zu lieben, während man seinen Mitmenschen oder sich selbst verachtet. Die Schwierigkeit dabei ist, dass uns Gott als Gegenüber begegnet. Gekleidet in Form und Eigenschaft.
Wenn Gott also Gott ist, also nicht an Form und Eigenschaft gebunden, dann ist scheint es vorteilhaft, Gott vornehmlich so erfahren zu wollen, indem wir unsere Aufmerksamkeit von der Erscheinungswelt (einschließlich der subtilen Bereiche des Gemüts) zurück ziehen. Quasi hin zu unserem „innersten“ Wesen, zu dem reinen Gottesfunken in uns. Und wenn Religion die Rückbindung zum Göttlichen sein soll, muss sie uns genau das ermöglichen: Die Rückbindung zu unserem wahren Wesen. Und sie muss es mit ebenso großer Sicherheit tun, wie 1 + 1 = 2 ist.

Das meinte ich mit meiner Aussage, dass Religion als Rückbindung an das Göttliche "systematisch" erfahrbar sein muss, wenn sie denn Realität sein soll.

Ich hoffe, Deine Frage ausreichend beantwortet haben zu können. Wenn nicht, frag nach.

Gruß
LD