Molekulare Manipulateure im Kopf
Wie Suchtstoffe das Gehirn krank machen
(Januar 2004) Die alte Dame, die sich bei Glatteis den Oberschenkel bricht, verdient unser Mitleid. Tragisch finden wir den Fall des 34-jährigen Leistungssportlers, der durch einen Herzinfarkt ums Leben kommt. Und natürlich haben wir Verständnis für all jene, die an Krebs, Rheuma oder der Alzheimer´schen Krankheit leiden. Auf wenig Sympathie darf dagegen der Penner hoffen, der schon morgens vor dem Supermarkt die ersten Biere trinkt. Ungewaschen und mit schlechtem Atem bettelt er um ein paar Cents oder eine Zigarette. Die Suche nach der Droge ist für ihn zum Lebensinhalt geworden.
Noch immer fällt es den meisten Menschen schwer, Sucht nicht einfach als ein Zeichen von Willensschwäche oder mangelndem Charakter abzutun. Doch bei näherer Betrachtung zeigen sich durchaus Parallelen zu anderen Krankheiten: Der Zufall scheint eine große Rolle zu spielen – wie bei Knochenbrüchen und sonstigen Unfällen. Bestimmte Verhaltens- und Lebensweisen erhöhen die Gefahr – wie beim Krebs oder Herzinfarkt. Schicksalsschläge sowie Ärger in der Familie oder Stress im Beruf machen die Menschen anfälliger – nicht nur für Allergien und Depressionen. Schützende wie belastende Erbanlagen sind ebenfalls ein wichtiger Faktor – ein Phänomen, das Genetiker auch bei Rheuma oder Alzheimer beobachten.
Veränderungen auf allen Ebenen
Sucht – darin sind Mediziner und Wissenschaftler sich heute einig – ist eine „echte“ Krankheit, die auf nachweisbaren Veränderungen im Gehirn beruht. Beginnend mit natürlichen Anpassungsreaktionen auf Drogen aller Art wechseln Nervenzellen (Neuronen) zunächst ihren Erregungszustand. Sie ändern schon nach kurzer Zeit Art, Menge und Zusammensetzung zahlreicher Biomoleküle, die an der Übertragung von Signalen beteiligt sind. Schließlich können sich bei längerem Substanzmissbrauch auch die Verknüpfungen der Neuronen untereinander wandeln - bis hin zu Veränderungen bestimmter Hirnteile, die mit dem bloßen Auge sichtbar sind. Offensichtlich spielen auch soziale und psychologische Faktoren sowie die Erbanlagen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Verhaltensmustern, die den Drogenkonsum beeinflussen. Dabei stehen biochemische, psychosoziale und genetische Modelle der Suchtentstehung längst nicht mehr als gegensätzliche und unvereinbare Erklärungsversuche nebeneinander. Sie erscheinen vielmehr im Lichte neuester Forschungen als unterschiedliche Aspekte des gleichen Phänomens. Es stellt sich heraus, dass nicht nur Drogen und Medikamente biochemische Vorgänge im Gehirn beeinflussen. Art und der Umfang der Erziehung, persönliche Kontakte oder Schicksalsschläge sind wesentliche Faktoren für die Entwicklung unseres Denkorgans und auch Verhaltensänderungen, wie sie bei verschiedenen nicht-medikamentösen Therapien erlernt werden, hinterlassen ihre Spuren in den grauen Zellen.
Denn unser Gehirn funktioniert nicht etwa nach einem unveränderlichen Schaltplan, bei dem jeder Reiz mit einer unabänderlichen Reaktion gekoppelt wäre. Im Gegenteil erweist sich das Organ unter unserer Schädeldecke als der flexibelste und anpassungsfähigste Körperteil. Mit seinen schätzungsweise 100 Milliarden (100000000000) Nervenzellen oder Neuronen empfängt, bewertet und gewichtet das Gehirn ständig die Meldungen unserer Sinnesorgane über die Außenwelt. Es ermittelt gleichzeitig elementare körperliche Bedürfnisse wie Essen, Trinken oder Wärme und sucht nach der besten Möglichkeit, diese Bedürfnisse zu stillen.
Unmittelbar nach der Geburt helfen dabei angeborene Verhaltensmuster, doch schon Kleinkinder erproben die verschiedensten Strategien, um ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Erfolgreiche Versuche führen zu einem Gefühl der Zufriedenheit oder des Glücks und diese Belohnung hilft, uns daran zu erinnern. Je öfter ein bestimmtes Verhalten belohnt wird, und je größer diese Belohnung ausfällt, umso intensiver wird die Erinnerung. Weil Drogen besonders intensive Glücksgefühle auslösen können, lag die Vermutung nahe, dass auch sie auf das „Belohnungssystem“ des Gehirns einwirken.
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