Die Bibel enthält als Sammlung von in etwa 1200 Jahren gewachsenen religiösen Schriften keine einheitlich ausformulierte Staatstheorie. Weil das Volk Israel seine Rechtsordnung, die Tora, als Offenbarung JHWHs verstand, konnte es seine politischen Ordnungen jedoch nur als Antwort auf den in den Geboten empfangenen Willen Gottes konzipieren. Die Jüdische Geschichte hat in der biblischen Epoche verschiedene Staatsformen ausgeprägt, die verschieden theologisch bewertet wurden.
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Das frühe Israel war ein loser Stämmebund ohne übergeordnete staatliche Strukturen, das sich als unmittelbare Theokratie verstand. Sein Zusammenhalt wurde im Falle äußerer Bedrohung durch charismatische „Richter" (Heerführer) gewährleistet.
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Später wurde es zu einem Königtum analog zu antiken Monarchien. Diesen Wandel beurteilt die biblische Geschichtsschreibung als „Abfall“ von Gott (1 Sam 8,7). Gleichwohl verdankt der König sein Amt göttlicher Erwählung (1 Sam 9,17). Es hatte vor allem außenpolitische Schutzfunktion und bildete anstelle der spontanen situativen Berufung Einzelner bald Dynastien aus. Dabei übernahm die biblische Theologie auch Elemente der antiken Gottkönigsideologie und erhob den König zum Heilsmittler: So wie Gott seine erbliche Thronfolge bestätigt, so garantiert der König als Schutzherr des Tempelkults (d. h. der Religionsausübung) das Heil des Volkes (2 Sam 7,13f). Hierher stammt der Gedanke des „Gottgnadentums“, der in Europa seit Karl dem Großen die dominante Legitimationsform darstellte.
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Die biblische Prophetie begleitete das Königtum von Anfang an äußerst kritisch. Schon König David verlor für seinen Mord an Urija beinahe die Gnade Gottes. Vor allem die Könige des Nordreichs, aber auch des Südreichs wurden oft als Götzendiener „verworfen“: Außenpolitische Niederlagen oder innenpolitische Thronwirren galten als Gottes „Gericht“ für Bruch der Sozialgesetze der Tora und Versagen gegenüber den Armen und Schwachen - so z. B. bei Amos und Hosea im 8. Jahrhundert.
* Die Katastrophe der Tempelzerstörung und Exilierung im Jahr 586 v. Chr. wurde im Babylonischen Exil mit einer religionsgeschichtlich einzigartigen Zukunftserwartung verarbeitet:
Das Idealbild des Messias und gerechten Richters (z. B. in Jes 9 und 11) und die Vision vom Endgericht (z. B. in Dan 7,2-14)
drückt die Hoffnung auf ein Ende aller menschlichen Gewaltherrschaft und weltweiten Völkerfrieden aus.
Nur wenige Texte im Neuen Testament (NT) befassen sich mit dem Phänomen des Staates. Denn
Jesus von Nazaret verkündete das nahe Reich Gottes als Ende aller von Menschen geschaffenen Herrschaftssysteme. Weil dieses Reich alle politische Macht befriste, lehrte er Verzicht auf gewaltsame Auflehnung gegen den Staat, zugleich aber ein grundlegend anderes, herrschaftsfreies Verhalten der Christen untereinander:
Ihr wisst, dass die Herrscher der Welt ihren Völkern Gewalt antun – so soll es unter Euch nicht sein! (Mk 10,42)
Sein Ausspruch zur Steuerfrage -
gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist -
lehnt jede Vergöttlichung menschlicher Macht ab und gebietet ihre Unterordnung unter Gottes Willen.
Die Urchristen verkündeten Tod und Auferstehung des Gottessohns demgemäß als eschatologische Wende, die das kommende Endgericht über die Welt schon vorweg genommen und damit aller staatlichen Gewalt eine absolute Grenze gesetzt habe. Somit sei Christus Herr über alle Herren dieser vergehenden Welt. Im Glauben an ihn seien alle weltlichen Machthaber bereits seiner unsichtbaren Herrschaft untergeordnet.
Simon Petrus betonte nach Apg 5,29 den prinzipiellen Vorrang des Gotteswillens vor allen menschlichen Machtansprüchen: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen. Paulus von Tarsus sah weltliche Machthaber nicht nur im Sollzustand, sondern im Istzustand als „Diener Gottes“, denen man sich „um des Gewissens willen“ unterzuordnen habe, da Gott sie zur Wahrung des Rechts eingesetzt habe. Darum ermahnte er die Christen, römische Steuern zu zahlen. Dennoch sah er
den Staat nicht per se als Werkzeug Gottes. Römische Staatsbeamte, die Juden und Christen verfolgten, seien durch solidarische gute Taten zu entfeinden: So solle die christliche Gemeinde in Erwartung des nahen Endgerichts sichtbar dem gotteslästerlichen Lebenswandel der römischen Oberschicht widerstehen (Römerbrief 12-13).
Vor dem Hintergrund der Christenverfolgungen stellte die Johannesapokalypse die Erwartung des „neuen Jerusalem“ (Off 21)
, also einer kommenden unmittelbaren Theokratie, gegen die römische Gewaltherrschaft, die als „Tier aus dem Abgrund“ (Off 13)
geistig entmachtet werden sollte: Wenn „Gott sein wird Alles in Allem“, werde keine irdische Macht mehr nötig sein, um das Zusammenleben zu organisieren.
Nachdem Kaiser Theodosius I. das Christentum 380 zur Staatsreligion des Römischen Reiches erklärt hatte, entwarf Augustinus in seinem Werk De civitate Dei (um 420) eine kirchliche Staatstheorie. (
Abfall von Gott?)
Martin Luther betonte wie Augustin die Unterscheidung der Bereiche von Gott und Welt.
Karl Barths Römerbriefkommentar 1919 stellt nach dem Ersten Weltkrieg heraus, dass
Gottes unverfügbares Reich alle Staatsautorität radikal in Frage stelle.
Die von Barth formulierte Barmer Erklärung proklamierte 1934 gegen die lutherische Zwei-Reiche-Lehre
die „Königsherrschaft Jesu Christi“ über alle Bereiche der Welt. Von da aus bestimmt sie den Staatszweck.
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