Das wiedergefundene Lied.

Friedrich von Sallet erzählt in seinem Gedicht "Der Geiger" von einem Mann, der mit seinem Instrument durch die Lande zieht. Überall begeistert er die Leute mit seinem Geigenspiel. Ihn aber rührt der Beifall nicht. Er bleibt traurig, und bisweilen bricht er mitten in einem Stück ab. Der Geiger weiß, es ist nicht das Lied, das er spielen müsste und möchte. Einst hat er ein besonderes Lied von seinem sterbenden Vater gelernt. Aber er hat es verloren. Darum zieht er durch die ganze Welt und sucht überall nach dem verlorenen Lied. Als er es in der Fremde nicht gefunden hat, kehrt er als alter Mann noch einmal in die Heimat zurück, um es dort zu suchen. Dann betet er verzweifelt zu Gott, er möge in seiner Barmherzigkeit ihm das Lied noch einmal schenken. Auf sein inniges Gebet hin erscheint ihm der Vater im Traum und spielt ihm noch einmal das wunderbare Lied. Voll Freude nimmt er am Morgen die Geige und spielt es wieder, das verlorene und wiedergefundene Lied, zum Staunen seines Jungen. Und mitten im Lied fällt dem Sterbenden der Bogen aus der Hand.

Wir haben auch das besondere Lied verloren, das Lied vom Vater, das Hohelied der Liebe, der Anbetung. Wir müssen es wiederfinden, und wenn wir die ganze Welt durchziehen. Wir müssen das Lied der Liebe und des Lebens wiederfinden um Gottes willen, um des anderen willen und um unseretwillen. Manche finden es vielleicht erst im Sterben wieder und spielen es dann noch für einen Menschen, der es empfangen und weiterspielen und singen kann.

"Er hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott!"
Psalm 40,4

Axel Kühner
aus "Überlebensgeschichten für jeden Tag"
Aussaat-Verlag