Die kleine Raupe Moritz

Ich sitze im Garten und geniesse die Pracht der vielen Pflanzen, die einen wundervollen Duft verströmen. Viel zu selten habe ich Zeit diese Oase zu geniessen. Aber wenn ich hier bin, dann bin ich mit allen Sinnen hier, mit jeder Faser meines Seins. Dieser kleine Garten ist der Ort wo ich Gott begegne. Wo ich Menschen begegnen kann und wo ich die Liebe Gottes, die er in die Schöpfung gelegt hat etwas be-greifen kann.

In diesem Garten gibt es unendlich viel zu sehen. Kein Eingreifen von Menschenhand verhindert hier das Leben. Libellen und Schmetterlinge fliegen um die Wette. Nimmt man sich einen Moment Zeit um genau in einen Busch zu schauen, so ist da Leben die Fülle zu finden. Es kriecht, summt, fliegt, krabbelt und spinnt nur so. Die ganze Luft ist erfüllt vom Duft und den Stimmen des Lebens. Grillen zirpen ohne Ende, wir können sie sogar beobachten und in ihre Löcher schauen. Vertrauensvoll liegen sie an der Sonne vor ihrem Loch. Über Nacht erblühten die Pfingstrosen. Weinbergschnecken geniessen die kühle Wiese bei Tagesanbruch. Sobald es wärmer wird, überlassen sie ihren Platz den Geschöpfen, welche die Sonne mögen und geniessen.

Genau in der Mitte des kleinen Gartens steht ein Apfelbaum. Wie lieben wir doch diesen Baum. Viel kann er uns erzählen, wir müssen uns nur die Zeit nehmen hinzuhören. Er erzählt aus vergangenen Jahren, als noch nicht viele Autos da waren, von Zeiten als die Menschen noch grosse Freude hatten, von seinen Äpfeln essen zu dürfen. Wie dankbar sind wir über den Schatten den er uns spendet. Wie oft sitzen wir hier unter dem Baum. Wie gross ist die Freude, wenn im Frühjahr die ersten Blüten daran sichtbar werden und uns den nahen Frühling ankündigt. Lieber Baum, sogar im Winter spendest du uns Freude, wenn du uns mit deiner lustigen Schneekappe die langen und kalten Wintertage verzauberst.

Gestern Abend fanden auch Fuchs und Marder den Weg in diese schöne Gegend, sowie die vielen Katzen die in dieser lauen Frühlingsnacht noch unterwegs waren. Tief und fest schliefen hingegen die Wasserschildkröten in ihrem Becken und die Bienen in ihrem Bienenkorb.

Manchmal sitzen wir da und können kaum glauben was wir hier sehen dürfen. Tag und Nacht, ohne Unterbruch führt uns Gott hier seine Schöpfung vor Augen. Eine tiefe Ehrfurcht erfüllt uns, eine Freude die unser Herz fast nicht aushalten kann. So verleben wir intensive Stunden in diesem Garten und dürfen uns von den strengen Stunden des Alltags erholen. Hier erleben wir die Ruhe Gottes, nehmen dankbar den Schabbat aus seiner Hand an.

Gestern brachte mir Gabriel eine leuchtend, wunderschöne grüne Raupe. Ein Geburtstagsgeschenk. Sie war äusserst munter und man wurde einfach fröhlich wenn man sie nur schon ansah. Ich gab ihr im stillen den Namen Moritz. Nachdem wir sie ausgiebig angestaunt hatten, durfte sie im Apfelbaum den Tag verbringen. Ich dachte immer wieder an Moritz. Was wohl einmal aus ihm wird? Ob er ahnt, dass er einmal fliegen kann, dass er einmal ein anderes Leben führen wird. Ein Leben, dass ihn abheben lässt, das ihm die Freiheit gibt Hindernisse mit einigen Flügelschlägen überwinden zu können? Sind wir nicht selber Raupen? Kriechen durch unsere Welt und haben das Gefühl das sei alles. Und doch - spüren wir nicht tief in uns, dass es noch eine andere Welt geben könnte, dass wir noch eine andere Bestimmung haben als nur in dieser Welt zu "kriechen". Je tiefer ich mich in die Bibel, Gottes Wort, vertiefe, das ER uns gab um das Leben und den Sinn zu verstehen, je mehr begreife ich das Leben der Raupe. Sie macht sichtbar, dass nicht der Augenblick das einzige ist, dass nicht das Sichtbare das Wesentliche ist. Sondern, dass es noch andere Wirklichkeiten gibt, solche die uns noch verborgen sind, sich aber zu Gottes Zeit uns offenbaren werden. So ist unser Leben hier doch auch nur ein Durchgang. Unsere Zukunft, unser Ziel liegt hinter dieser Zeit, die wir zu oft als das einzig Wahre anschauen. Aber Gott in seiner Liebe wird nicht müde, uns immer wieder wunderbare Beispiele zu zeigen, so wie die Begegnung mit Moritz.

Spätabends kehren wir als Familie zurück. Wir verbrachten den Abend in einem romantischen Gartenrestaurant. Die Nacht ist zu schön um schon ins Bett zu gehen. So setzen wir uns in den Garten und führen unsere Gespräche noch etwas weiter. Plötzlich habe ich etwas auf meiner Bluse. Wir staunen nicht schlecht, als wir sehen, dass es Moritz ist. Wir haben keine Ahnung woher er kommt. Vielleicht liess er sich vom Baum fallen. Gleich munter wie am Morgen wetzt er jetzt über meine Bluse. Sein leuchtendes grün können wir sogar in der Dunkelheit erkennen. Und wieder muss ich über die wunderbare Veränderung, über sein neues Leben nachdenken, das er im nächsten Jahr erwarten darf.

Wie steht es denn mit mir? Erwarte ich meine Veränderung, mein neues Leben wenn es Zeit für mich ist? Mein Vater im Himmel arbeitet an uns. Er schärft uns den Blick für seine Welten. Wir dürfen aus seinem Wort lernen, dürfen immer mehr erkennen. Wir sehen den Baum, sehen mit unseren inneren Augen aber auch die Wurzeln, wir sehen die Raupe, sehen mit unseren inneren Augen aber schon den Schmetterling. Wir riechen den Duft von Gottes Schöpfung und sehen mit den inneren Augen die zukünftige Welt. Dort wo der Baum des Lebens steht und unser Ziel ist - in unseres Vaters Haus. Dort wo ER steht und uns liebevoll erwartet.

Moritz setzen wir an einen geschützten Ort bevor wir ins Haus zum Schlafen gehen. Heute Morgen, während ich schreibe, halte ich Ausschau nach Moritz. Nirgends ist eine grüne Raupe zu sehen. Sie wird irgendwo am Fressen sein, denn jetzt hat sie Zeit dafür, sie hat Gottes Auftrag erfüllt - uns eine Predigt zu halten.

Popcorn - 24.5.2009