Für unsere Talmudleser!
Gedanken zur Nächstenliebe aus jüdischer Sicht mit dem Talmud interpretiert
Eine dritte Tat der Mitmenschlichkeit, die in unserem Morgengebet erwähnt wird, ist das Friedenstiften zwischen Menschen: »So wichtig ist der Friede, dass selbst der Heilige, Er sei gesegnet, um des Friedens willen etwas verändert. « Maharal, der Rabbi Löw aus Prag (ca. l525-l609)*, erklärt dies folgendermaßen: «So sollte ein Mensch handeln, der sich unter Menschen mit verschiedenen Meinungen um den Frieden bemüht. Er sagt dem einen, was ihm gerecht erscheint, aber zu dem anderen sagt er es nicht, und zwar um des Friedens willen. Von daher sagt man, dass es erlaubt ist, um des Friedens willen seine Aussagen zu verändern. Denn wenn es keinen Frieden gibt, herrscht Uneinigkeit, und jede Uneinigkeit ist eine grundlegende Veränderung der Welt [die Welt ist dann ohne Frieden ...]. Außerdem geht es so in der Welt zu, dass jeder der jeweils Beteiligten das von Ihm erhält, was der andere nicht bekommt. Und das führt zum Frieden ..., denn der Anfang des Friedens besteht darin, dass der eine nicht nötig hat, was der andere erhält. Und darum ist es erlaubt, zu verändern, wie der Gesegnete Name einem jeden gibt, was er nötig hat« (Netivot Olam, Netiv haSchalom, I). Mit anderen Worten: Gott hat keine zwei Menschen und keine zwei Pflanzen- oder Tierarten gleich geschaffen, und zwar um des Friedens willen. Wären sie alle gleich, würden sie alle dasselbe haben wollen und die gleichen Bedürfnisse haben, und das würde unwiderruflich zu Streit führen. Dank der Unterschiede findet eine unendliche Verschiedenheit von Organismen ihre eigene Lebensweise dadurch, dass sie sich anpassen und dass sich unentdeckte Möglichkeiten einspielen. Die Unterschiedlichkeit macht den Frieden möglich.
18,1 Und der Ewige erschien ihm ..., als er in der Hitze des Tages am Eingang des Zeltes saß. Der Talmud (bBava M 86b) fragt: »Was bedeutet: in der Hitze des Tages? Rabbi Chama, der Sohn Rabbi Chaninas, sagt: Jener Tag war der dritte nach Awrahams Beschneidung, und der Heilige, Er sei gesegnet, kam, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen.« Chiskuni, der sich darauf bezieht, merkt an, dass überall, wo wir sonst lesen: »Er erschien«, sofort zu lesen ist, was dann gesprochen wird, hier aber nicht! Und warum soll Er hier anders erscheinen als darum, weil Er den Krankenbesuch machen will? Chiskuni lässt also 18,1 nicht in 18,17, die Ankündigung des Untergangs von Sodom, übergehen. 18,1 ist dann auch die Bibelstelle, die mit dem Gebot des Bikur cholim, des Krankenbesuchs, verbunden wird. Dies ist eines der Gebote, die wir vom Heiligen, Er sei gesegnet, selbst lernen, so ein berühmter Ausspruch von Rabbi Chama bar Chanina in bSota 14a: »Warum steht da [Dtn 13,5]: >Dem Ewigen, Eurem Gott, folget nach?< Kann ein Mensch denn der Schechina [der Einwohnung Gottes, aber auch eine Andeutung für Gott] nachfolgen? Heißt es denn nicht: >Der Ewige, Dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer>? Nein, es bedeutet, dass du den Eigenschaften des Heiligen, Er sei gesegnet, nachfolgst: Wie Er die Nackten kleidet [es heißt ja >und Gott der Ewige machte für den Menschen und seine Frau Kleider aus Fellen<; Gen 3,21], so kleide auch du die Nackten. Wie Er die Kranken besucht, wie es heißt: >Der Ewige erschien ihm im Hain von Mamre< [Gen 18,1], so besuche auch du die Kranken. Wie Er die Trauernden tröstet, wie es heißt: >Und es geschah nach dem Tod Awrahams, da segnete Gott Jizchak< [Gen 25,11], so tröste auch du die Trauernden. So wie Er die Toten begräbt, wie es heißt: >Er begrub ihn [Moses] in jenem Tal [Dtn 34,6], so begrabe auch du die Toten.<> Das Gebot des Krankenbesuchs wird dadurch täglich im Morgengebet erinnert, dass die Talmudstelle (bShabb 127a) zitiert wird, in der zur Verdeutlichung von mPea 1,1 eine Reihe von grundlegenden Taten der Menschenliebe aufgezählt wird: Gastfreundschaft, Krankenbesuch, Teilnahme an Hochzeiten und Begräbnissen sowie Frieden stiften zwischen Mensch und Mitmensch.
Zu all diesem hat uns der Höchste – Gelobt sei sein Namen – verpflichtet!
Zu wandeln auf allen seinen Wegen‘ (Dtn 11,22). Dies sind die Wege des Heiligen, gelobt sei Er; es heißt ja: ,Der Ewige ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Wahrheit. Er bewahrt seine Gnade für Tausende und vergibt Missetat, Sünde und Übertretung' (Ex 34,6). Ferner heißt es: ,Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden' (Joel 3,5). Wie aber ist es dem Menschen möglich, den Namen des Heiligen, gelobt sei er, anzurufen? Folgendermaßen: Wie der Heilige gnädig und barmherzig genannt wird, so sei auch du gnädig und barmherzig und gib eine Gabe umsonst für alle (chinam lekol). Der Heilige, gelobt sei er, wird gerecht genannt; es heißt ja: ,Gerecht ist der Herr in allen seinen Taten'‘(Ps 145,7). Du sollst daher auch gerecht (zaddik) sein. Wie der Heilige, gelobt sei er, fromm genannt wird, so sollst auch du fromm sein."
Der israelitische Mensch soll die Barmherzigkeit und Großzügigkeit Gottes, wie sie in Ex 34,6 und anderwärts geschildert wird, nachahmen. Er soll (in Anknüpfung an Dtn 28,9) "auf den Wegen des Himmels wandeln". "Was heißt, die Wege des Himmels sind gnädig (channun)? Es heißt: Er gibt umsonst (chinnam) Gaben, den einen und den andern: Dem, der ihn kennt, und dem, der ihn nicht kennt. Daher sollt auch ihr einander Gaben geben, einer dem andern ... Was heißt ferner: Die Wege des Ewigen sind Vielerbarmend (rav chesed)? Er neigt sich mehrheitlich zur Gnade hin. So sollt auch ihr euch zum Guten hinneigen, um mehr zu tun als das Böse." Martin Buber kommentiert diese und ähnliche Stellen über die Nachahmung Gottes so: "Wir sind bestimmt, ihm zu ,gleichen', das heißt: das Bild, in dem wir erschaffen sind und das wir in uns tragen, aus uns zu vollenden, um - nicht in diesem Leben seine Vollendung zu erfahren. Das Judentum, das am stärksten den Wirklichkeitsernst der Erschaffung des Menschen durch Gott erfasst hat, hat auch die Bedeutung der Ebenbildlichkeit für das Leben des Menschen am reinsten erkannt." (Martin Buber, Nachahmung Gottes, in: ders.: Werke Bd 2, Schriften zur Bibel, München 1964, Seite 1055-1065; zit. Seite 1061)
"Der Mitmensch, dem der Fromme begegnet, ist daher nie der Mensch-an-sich, den es nicht gibt, sondern immer der Mensch-vor-Gott: der Gerechte oder der Ungerechte, der Toraeifrige oder der Säumige, der Strauchelnde oder der Umkehrende, der Erwählte oder der Nichterwählte, der Freund oder der Feind Gottes, der Gottgemäße oder der Gottwidrige.
Samu
Lesezeichen