Biokulturelle Evolution / Gen-Kultur-Koevolution
Bis tief in die 90er Jahre hinein dominierte die Auffassung die Wissenschaft, dass Evolution ausschließlich ein "biologischer" Begriff sei. Nur wenige mutige Denker wie Friedrich August von Hayek stemmten sich dieser Verengung entgegen - Hayek beispielsweise mit dem Hinweis, dass der Begriff aus der Sprachforschung entnommen sei und die Sprachen tatsächlich ein wunderbares Beispiel für nicht vorab geplante, sondern kulturell evolvierte Systeme seien.
Es folgte eine Phase der getrennten Diskussion von biologischer und kultureller Evolution - wobei Richard Dawkins mit der Mem-Theorie kultureller "Viren" die wohl extremste Position bezog: die biologischen Einheiten (Gene) und die kulturellen Einheiten (Meme) wurden hier als weitgehend unverbunden, wenn nicht gar potentiell gegensätzlich gedacht. Gerade diese extreme Position forderte jedoch zum Widerspruch auf: Wenn sich zum Beispiel jene Musik-Meme durchsetzen, die sich an bestimmte Gehirnstrukturen schmiegen - behielte dann nicht doch die biologische Evolution ihre fundamentale Bedeutung?
In jüngster Zeit setzt sich, gerade auch nach Beobachtungen etwa zu erlerntem Werkzeug- oder auch pflanzlichem Medikamentengebrauch durch Primaten, mehr und mehr der Begriff der biokulturellen Evolution, von einigen auch Gen-Kultur-Koevolution genannt, durch.
Hierbei wird die Kultur nicht mehr außerhalb der Biologie, sondern letztlich als Erweiterung verstanden: nicht jedes Produkt von Kulturfähigkeiten ist selbst adaptiv (heute wäre es z.B. ein Faustkeil kaum noch), auf Dauer aber setzten sich auch in der kulturellen Evolution immer wieder die fitness-förderlichen Produkte durch. Und umgekehrt: die Verfügbarkeit kultureller Produkte wirkt dann auch wieder zurück auf die genetische Ausstattung.
Beispiel Laktosetoleranz
Das vielleicht berühmteste Beispiel hierfür ist die Laktosetoleranz. Normalerweise verlieren die Menschen nach dem Babyalter die Fähigkeit, Milchzuckerlaktose zu verarbeiten. Wo immer aber Menschen begannen, milchgebendes Vieh zu halten, wurden die seltenen Mutationen lebenslanger Laktosetoleranz prompt zu einem Überlebensvorteil: Wer auch noch als Jugendlicher und Erwachsener Milch vertrug, hatte bessere Chancen und damit durchschnittlich mehr Kinder. Die Kultur wirkte auf die Gene zurück! Heute haben 100% der Tschechen, 98% der Dänen, 85% der nordafrikanischen Tuareg - aber nur 3% der Thailänder und 0% unter einigen Bantuvölkern die Gene für Laktosetoleranz und die Forscher können die Ausbreitung der Milchviehhaltung mit der Ausbreitung der entsprechenden Genmutationen korrelieren.
Eine niveauvolle Einführung mit diesem und weiteren Beispielen bietet "Genes, Culture, and Human Evolution: A Synthesis" von Linda Stone, Paul Lurquin und Luca Cavalli-Sforza.
Ein gerade auch für Religionswissenschaftler hochspannender Protagonist dieser Richtung ist daneben David Sloan Wilson.
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