Lieber Herold,
ich finde du hast eine sehr interessante aber auch sehr problematische Frage aufgeworfen, deren Erörterung sicherlich ein gewisses Konfliktpotential enthält. Lass mich deshalb vorweg sagen, dass ich mit deiner Einstellung kein Problem habe und sie dir gerne zubillige, bzw. sie dir nicht widerspenstig machen will. Dennoch muss ich gestehen, dass ich ebenfalls anderer Ansicht bin, gleichwohl ich den wert eigener Erfahrung sehr schätze und auch versuche soviel wie möglich selbst „aktiv“ zu erkunden.
Obschon ich das Beispiel von Isaak nicht ganz unproblematisch sehe, weil ich es in seiner Darstellung der Extreme zwar sehr eindrücklich, aber auch sehr provokant empfinde und mir vorstelle, dass es dazu führen mag sich gekränkt zu fühlen, möchte ich es doch in etwas anderer Form aufgreifen. Tatsächlich gibt es viele Dinge, deren praktische Erfahrung nicht zwingend notwendig sind, um sich ein adäquates Urteil darüber bilden zu können. Drogensucht, Gewaltopfer oder Ideologien (um Isaaks Beispiel etwas neutraler zu formulieren) versuche ich ja auch aus der Position des Außenstehenden zu hinterfragen und niemand würde von einem Richter wohl verlangen, er müsse erst selbst zum Straftäter werden, bevor er sich ein Urteil bilden darf. Weltanschauungen sind nun einmal keine Frage allein der praktischen Erfahrung – und hier muss erst einmal ganz klar gesagt werden, dass es sowieso nie möglich sein wird, die Sichtweise eines anderen Menschen aus praktischer Erfahrung nachzuvollziehen.
Zudem führt nicht jede praktische Erfahrung auch zu „besserem“ Wissen. Ich meine einen Drogenabhängigen der mir sagt er sei nicht süchtig und Drogen wären vielmehr der einzige Weg zur Erleuchtung und weg von dem satanischen System o.ä. hat vielleicht den Anspruch es besser zu wissen als jene die es mit Drogen versucht haben aber einfach geistig noch nicht so weit waren um es zu schaffen, aber ob ich deshalb seiner Einschätzung auch wirklich einen Vorzug gebe, das ist fraglich. Ich möchte betonen, dass ich mit dem Vergleich nicht etwa eine Assoziation zwischen Religion und Drogen andeuten möchte!!
Wenn wir aber nicht die Möglichkeit haben bestimmtest Wissen durch empirische Erfahrung zu machen, dann können wir versuchen mit Menschen in den Dialog zu treten, die eben das für sich in Anspruch nehmen. Und genau dass will ja auch z.B. die Religionswissenschaft machen. Ihr Ziel ist ja nun möglichst vorurteilsfrei den Forschungsgegenstand zu untersuchen (dass ihr dies nicht immer gelingt weil sie von Menschen betrieben wird, die sie z.B. auch dazu nützen um ihre eigenen "Ideologien" zu verbreiten, ist denke ich unstrittig) und zu diesem Zweck stützt sie sich ja auch auf die Befragung von Gläubigen ebenso wie ein Drogenberater sich auf die Erfahrung von Drogenabhängigen stützt anstatt nur auf eigene Erfahrung zu vertrauen, und auch das ist ein Erwerb von Praxiserfahrung – tatsächlich sogar in weitaus größerem Sinne als die persönliche Praxiserfahrung eines Einzelnen. Vorurteilsfrei heißt aber eben auch unter dem Gesichtspunkt des expliziten „Nicht-Glauben“ religiöse Erscheinungsformen zu hinterfragen, denn Glauben heißt bereits „vorzuurteilen“. Durch die Darstellung von Inhalten bzw. Ansichten zu diesem Thema, will sie dabei möglichst versuchen undogmatisch verschiedene Ansätze zu beleuchten. Persönliche Erfahrung aber ist immer eben persönlich und an die Person gebunden, d.h. man kann sie nicht wirklich in die Waagschale werfen. Und ich wäre bei der andernorts schon einmal gestellten Frage, woran denn ein Außenstehender wissen würde, welche Praxiserfahrung er suchen muss, wenn 10 Vertreter von unterschiedlichen Weltanschauungen jeweils auf ihre Erfahrung verweisen.
Die Absicht einer Wissenschaft im Allgemeinen und der Religionswissenschaft im Besonderen – und auch das möchte ich klar sagen – ist es i.d.R. nicht bestimmte Glaubensformen zu verurteilen oder gar eine Aussage über Gott zu treffen. Ganz im Gegenteil erkennt sie an, dass sie hinter eine bestimmte Linie nicht gehen kann und will. Was hingegen die Bibel z.B. betrifft, auch hier sagt sie nur aus, dass bestimmte glaubensgeleiteten Annahmen unter Berücksichtigung der vorliegenden, als Fakten akzeptieren Informationen nicht schlüssig sind. Jeder ernsthafte Wissenschaftler wird aber sofort einräumen, dass diese Aussagen keine bewiesenen oder absoluten Wahrheiten darstellen. Außerdem darf auch nicht vergessen werden, dass Religionswissenschaftler keine Monster sind, sondern außerhalb ihres Berufes auch ganz normale Menschen die ebenso religiöse Überzeugungen und Erfahrungen haben können.Ich möchte dein Beispiel Aufgreifens auf der anderen Seite (nicht zwingend dich sondern ganz allgemein) davor warnen, anzunehmen, der Stallgeruch und die Fähigkeit einen Acker zu bestellen allein würde einen zu einem guten Bauern machen. Zu einem guten Bauern gehört auch sich Neuerungen gegenüber nicht zu verschließen und neben der Praxis auch die Theorie zu würdigen und eben nicht nach dem Motto „was der Bauer nicht kennt isst er nicht“ zu leben.
Was die Bibel betrifft, hat Absalom schon einiges dazu gesagt und wenn ich auch nicht alles so glücklich formuliert sehe oder zustimmen würde, möchte ich ihm nicht widersprechen sondern mich auf einen Gedanken beschränken. Praktische Erfahrung und praktisches Zeugnis kann völlig unabhängig von der vermeintlichen historischen Wirklichkeit existieren. Ein Placebo z.B. ist nicht Minderwertig nur weil es „faktisch“ keinen Wirkstoff trägt, sondern ist im Gegenteil auf anderem Wege ein völlig ernstzunehmendes Mittel. Und wenn der Glaube an die Bibel einem Mensch hilft oder zu einem besseren Menschen macht, ist die Frage, ob die Weltanschauungen mit der wissenschaftlichen Realitätskonstruktion und ihrer Kriterien kompatibel ist, vielleicht für diesen Menschen nicht so das Entscheidende. Aber Absalom hat durchaus recht, wenn er darauf verweist, dass die praktischen Ergebnisse der Erfahrung mit der Bibel nicht immer nur glorreich waren.
So oder so, was meiner Meinung nach auch einmal deutlich gesagt werden sollte und was ich oft nicht berücksichtigt sehe, man darf eine Weltanschauung nicht verurteilen aufgrund der Taten oder Untaten ihrer Mitglieder. Und das trifft ebenso auf das Christentum wie die Religionswissenschaft zu, wenn ich ihnen das menschliches Versagen oder den Kleingeist ihrer Vertreter nicht anlasten darf – den letztlich ist meiner bescheidenen Meinung nach der von ihnen erhobene Anspruch das Entscheidende Kriterium ihrer Bewertung.
Danke dir für dieses Thema und ich freue mich auf deine Gedanken und deine Kritik
Kasper
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