Guten morgen eddy,

Dass für gewöhnlich jeder diesen Läuterungsprozess selber durchleben muss sehe ich auch so. Der Kelch geht nicht vorüber... Nur es mag die Möglichkeit bestehen, dass in spirituellen Rezessionen ein korrigierendes Eingreifen Gottes notwendig wird, damit hier nicht alles vor die Hunde geht. Ein solch kollektives "Hinwegnehmen der Sünde" wäre dann so eine Korrektur, möglicherweise durch Seinen Sohn gemäß Seines Willens "vollbracht".
Das Gott dem Menschen, wie ein Hirte dem verirrten Schaf, nachgeht und es sucht, oder dass der Mensch, der sein Erbe verprasst hat und eines Morgens bei den Schweinen aufwacht, trotzdem nicht von der Liebe seines Vaters (Gottes) getrennt werden kann, dass also ganz sicher nicht alles vor die Hunde geht, wie du es ausdrücktest, halte ich für eine christliche Grundüberzeugung. Letztlich empfangen wir alles vom Herrn und das kann man auch sehr gerne als korrigierendes Eingreifen verstehen.

Jedoch habe ich persönlich meine Probleme damit, den Kreuzestod Jesu als notwendige Voraussetzung zu betrachten, um dies alles möglich werden lassen zu können. Der Tod Jesu und seine Auferstehung hat zwar gezeigt, dass Gott diesen Menschen als seinen Sohn verherrlicht hat und wir ihm darin folgen dürfen, aber damit muss ja nun doch nicht notwendig die Vorstellung verbunden werden, dass erst der Mord an Jesus die hinreichenden Voraussetzungen geschaffen hat, damit wir Kinder Gottes sein dürfen. Vielmehr könnte man dies dann doch von der Auferstehung behaupten, denn Gott ist ja nunmal ein Gott der Lebenden und nicht der Toten (Lukas 20:38).

Deine Wortwahl erweckt den Eindruck, dass Du Religion schon sehr praktisch siehst. Ich habe kürzlich in einem anderen Forum von meinen Exerzitien mit dem Herzensgebet (Haus-Gries) berichtet, und die Reaktionen waren teilweise sehr ablehnend, was ich gar nicht verstanden habe. Ich war eigentlich positiv überrascht von einer endlich mal konkreten christlichen Spiritualität, die ich so eigentlich nur von den Buddhisten her kannte. Wenn Du darauf eingehen möchtest - wie sieht praktische Religion für Dich aus?
Ich vermute du warst da in einem eher evangelikal-geprägten Forum unterwegs? Die Brüder und Schwestern denken bei "Herzensgebet", "Jesu-Gebet", oder auch dem "Ruhegebet" nach Johannes Cassian an sowas wie Meditation und Meditation ist in deren Köpfen mit Fernöstlichem verknüpft und Fernöstliches mit einem roten Stoppschild. :-)

Nein, ich hab' dafür nicht nur allergrößtes Verständnis, sondern bin ein großer Freund der christlichen Kontemplation. Jedoch ist mein Ideal weniger kontemplativ als aktiv. Ich mache also das, was ich persönlich unter Nachfolge Jesu verstehe. Ich kümmere mich um Alte, Kranke, Verwirrte, Hungrige, Weinende und grundsätzlich allen Hilfsbedürftigen. Man kann ja Gott in jedem Menschen begegnen....

Es gibt diesbezüglich eine sehr interessante Predigt von Meister Eckhart über Maria (die Kontemplative) und Martha (die aktive), deren mögliche Interpretation ich dir gerne mal verlinken mag: https://www.hospitalkirche-hof.de/Do...ck13.07.22.pdf

Wie stehst Du zu der Sache mit der Keuschheit? Wenn ich mir das so anschaue, ist das in jedem Fall ein heikles Thema. Ich habe den Eindruck dass wir gar nicht so recht wissen, wie wir damit umgehen sollen. In der Vergangenheit war da das eine Extrem, die Begierde zu unterdrücken, wogegen wir heute eher ins andere Extrem gefallen zu sein scheinen...
Ich will mal versuchen deine Frage philosophisch zu beantworten. Ich persönliche glaube, dass der Mensch als Kreatur, also als geschaffenes Wesen, kein Sein hat. Biblisch gesprochen ist er "Staub von der Erde" und wird nur durch den "Ruach", den Atem Gottes, zu einem lebendigen Wesen (1.Mose 2,7). Das Menschsein des Menschen ist also völlig von Gott abhängig, denn von ihm allein fließt dem Menschen sein Leben zu. Ohne die permanente Zuwendung Gottes kein lebendiger Mensch, also hat ohne Gott der Mensch kein Sein. Wenn das stimmt, hat das weitreichende Folgen!

Wir müssen uns den Menschen als bedürftig vorstellen, auch wenn er heutzutage für gewöhnlich davon ausgeht, dass er unabhängig von Gott existieren und leben würde - quasi aus sich selbst heraus. Ich persönlich halte das, wie gesagt, für einen Irrtum, aber was soll denn ein Mensch machen, der sich in ein Leben versetzt sieht, das er nicht mit Gott verbinden kann und doch zahllose Anforderungen an ihn stellt?

Da sind zunächst meist die Eltern mit ihren "du sollst" und "sollst nicht", dann die Schule, die ihn auf ein Leben in einer Leistungsgesellschaft als funktionierendes Mitglied vorbereiten soll (und das häufig genug gar nicht kann), dann die Auseinandersetzung mit Freunden, Bekannten, dem ganzen Milieu in dem man lebt und nicht zuletzt auch mit sich selbst. "Wer bin ich?", "was will ich?", fragt so ein Mensch und weiß es nicht, verurteilt dazu, seinem Leben irgendwie Sinn zu verleihen. Doch wo ließe sich der finden?

Das sind alles sehr schwerwiegende, existentielle Fragen und ich denke es ist nur normal, dass der Mensch damit völlig überfordert sein kann. Er muss sich einerseits ausprobieren dürfen, hungernd nach Sein. Aber da sind dann wieder die "du sollst" und die "du sollst nicht" der Kindheit und auch in der Leistungsgesellschaft, in der man seit jeher Teil einer Zielgruppe gewesen war, bietet eventuell nur unzureichende Orientierungsmöglichkeiten. Die Gefahr sich zu verlaufen und verwirrt und ängstlich zurückzubleiben ist nicht gerade klein.

Was hat das jetzt alles mit Keuschheit zu tun? Nun, ich denke das sich der Mensch auch hinsichtlich seiner Sexualität in exakt diesem hilflosen und verwirrten Zustand befinden kann, den ich eben zu skizzieren versuchte. Ich glaube das es gut ist, dass sich der Mensch auch dieses Thema betreffend ausprobieren kann und darf. Ich sehe aber auch die Möglichkeit, dass er sich in seinem Ausprobieren und Suchen völlig verirren kann. Und das hinsichtlich aller möglichen, denkbaren Extreme.

Ich denke was Du sagst trifft genau das, was ich in der Erklärung mit "Monismus" gemeint habe.
Die Inder benutzen hier zur Veranschaulichung ein recht treffendes Gleichnis, nämlich vom Kino. Da ist also die weiße Leinwand (vgl. Reich Gottes), auf die der Film projeziert wird (diese Welt). In diesem Sinne wird fast genauso wie Du es ausdrückst ("überformt"), von einer Überlagerung der letzten Wirklichkeit mit dieser Erscheinungswelt ("Maya") gesprochen.
Ja, so kann man das wohl ausdrücken. Mir ist in diesem Zusammenhang nur wichtig, dass das Bewusstsein dafür heranwächst, dass wir nicht in einer dualistischen Welt leben. Alles ist eingebunden in Gott. Es gibt keine Gegenmacht, auch nicht den Teufel, der unabhängig von Gott sein Unwesen treiben könnte.

LG
Provisorium