Schönen guten Morgen,

Digido schrieb: Kennst Du da brauchbare schriftliche Überlieferungen?
En masse. Im Grunde hat ja jeder Text und jedes Wort eine mehrfache Dimension und dabei sicher auch immer eine solche, die in einem Menschen etwas zum Klingen bringen kann. Ernest Hemingway z.B., der ja als besonders talentierter Kurzgeschichten-Autor galt, wurde einmal gebeten, die kürzeste Kurzgeschichte zu erzählen, die er kenne. Und er erzählte dann, dass er einmal mit einem Boot auf einem Fluss unterwegs war und ihm dort diese Geschichte begegnete. Sie stand auf einem Schild am Ufer, sagte er und lautete: "For Sale: Baby Shoes unused."

Ok, das ist nun wirklich eine traurige Kurzgeschichte, aber vielleicht konnte ich damit verständlich machen weshalb ich Texten eine so hohe Bedeutung beimesse? Sie öffnen in uns eine Welt, deren Dimensionen wir uns häufig gar nicht bewusst sind. Und sie bieten uns die Möglichkeit aufmerksamer und hoffentlich auch sensibler mit dieser Welt umzugehen und sie zunehmend auszuloten.

Meister Eckhart hat dieses Wechselspiel von äußerem Eindruck und innerem Widerhall mal in folgenden, wunderschönen Worten ausgedrückt:

"Ich betrachte die Lilien auf dem Felde und ihren lichten Schein und ihre Farbe und alle ihre Blätter. Aber ihr Schwelgen sehe ich nicht. Warum? Weil ihr Schwelgen in mir ist. Aber auch was ich spreche, ist in mir, und ich spreche es aus mir heraus. Alle Kreaturen schmecken meinem äussern Menschen als Kreaturen: Wein als Wein, Brot als Brot und Fleisch als Fleisch. Aber meinem innern Menschen schmeckt nichts als Kreatur, sondern als Gabe Gottes. Und mein Innerster Mensch schmeckt sie nicht als Gabe Gottes, sondern als je und immerdar."

Hier werden neben der äußeren sogar gleich zwei innere Dimension genannt. Einmal die gewöhnliche Außendimension: Lilien stehen auf dem Feld, ich sehe und betrachte sie. Man könnte nun mit dem Händy ein Foto machen und es hätte neben all den anderen Fotos, die man zu hunderten auf seinem Smartphone gespeichert hat, keine außergewöhnliche Bedeutung und schnell würde man weiterwischen, durchstöberte man seine Fotogalerie...Das ist der äußere Mensch.

Dem inneren Menschen wird angesichts der Betrachtung des Lilienfeldes aber noch etwas anderes bewusst. Er sieht das Schwelgen der Lilien. Das heißt, die Lilien sind in im lebendig. Er kommt zu einer tieferen und bewussteren Beziehung zu dem, was ausgebreitet vor ihm liegt und er nennt es ganz zurecht: Gaben Gottes!

Eckhart kennt aber noch eine weitere Dimension und nennt sie den "innersten Menschen". Das ist die Dimension, die aus dem Grunde Gottes schöpft und dort sind alle Dinge eins und je und immerdar.

Ich wollte damit nur andeuten, dass die organisierte Religiosität auch ein Gefängnis werden kann - oder sogar vielfach ist - da die Menschen meinen, dass mehr für ihr Heil nicht nötig sei. Jeder aber, der etwas wach geworden ist, merkt, dass er sich selbst auf die Suche machen muss.
Eine wirkliche Gemeinschaft, die einem Menschen auf dem Weg nach Innen hilft, kann nur eine solche sein, die aus ebenso orientierten Menschen besteht.
Ich sag mal so: Jedwede Gemeinschaft, es muss also keine religiöse sein, kann leider auch zu dem werden, was du hier als Gefängnis beschrieben hast. Eine selbständige und bewusste Auseinandersetzung mit dem was man Leben nennt und wonach sich der Suchende ausstreckt, ist nämlich ganz grundsätzlich notwendig. Religiöse Gemeinschaften können deshalb auch durchaus hemmend wirken, sollte man tatsächlich sein Heil in diesen Gemeinschaften suchen, aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass die Menschen in der Regel ihr Heil in der Gemeinschaft suchen. Ich glaube vielmehr, dass sie in aller Regel Gott gemeinsam mit der Gemeinschaft suchen.

Wer den Weg nach Innen geht, dem wird ja die Außenwelt nicht schlechter - höchstens in dem Sinn, dass er nun sieht, wie wirklich alles (gegenüber dem Anschein) beschaffen ist - sondern leuchtender, da er mit ihr nur besser zurechtkommt. Die eigenen Befindlichkeiten werden ja gerade überwunden, bzw, die Gefühls- und Erfahrungswelt wird positiver.
Das kann, muss aber nicht so sein. Ich kenne durchaus Menschen, die in sich keinen Frieden zu finden vermochten, sondern immer nur Befindlichkeiten. Sie haben nicht die Erfahrung gemacht, dass einem alles als Gabe Gottes schmecken kann und schon gar nicht die Erfahrung des "je und immerdar". Sie tragen Schuld- und Schamgefühle aufgrund ihrer Lebenserfahrungen in sich und wenn sie sich mit ihrem inneren Menschen auseinandersetzen, begegnen sie auch beständig der Schuld und der Scham. Ganz so einfach ist das deshalb meiner Erfahrung nach einfach nicht. Man kann nicht salopp sagen, dass man sich nur nach innen kehren muss und schon wird alles gut, oder zumindest beständig besser.

LG
Provisorium