Hallo Digido,

solche Texte meinte ich eigentlich nicht. Hemingway war ja kein Mensch, der einen spirituellen Weg ging. Er vermittelte auch kaum höhere Einsichten, obwohl er in einem seiner Romane ein eigenes Nahtoderlebnis schildert. (Übrigens habe ich früher als ich noch rein weltlich gesinnt war, Hemingway recht gern gelesen).
Ja, da hast du recht, Hemingway ging weniger einen spirituellen Weg, als vielmehr seinen Weg mit Spirituosen...:-))

Aber ich hatte bewusst einen "ganz normalen Schriftsteller" genannt, weil ich verdeutlichen wollte, dass das, was einen Menschen mit seinem Innen (seiner Spiritualität, seinen Emotionen...) in Berührung bringen kann, keine bestimmten "hochheiligen und tiefsinnigen" Texte sein müssen. Ich hätte natürlich auch die Bibel, die Veden, die griechischen Mythen, buddhistisches, hinduistisches, sufistisches oder oder was weiß ich was für Texte nennen können, aber das hätte dann den Eindruck erweckt, als läge die innere, die spirituelle Dimension im Text verborgen. Dort liegt sie aber niemals, sondern sie liegt ausschließlich im Menschen und der Mensch kann sich diese Dimension schlussendlich in allem erschließen - also auch grundsätzlich in jedem Text.

Ich gebe zu, dass das Mandelkuchenrezept meiner Mutter zunächst einmal keine tiefere spirituelle Dimension zu beinhalten scheint, aber spätestens wenn der Kuchen dann im Ofen backt und sich sein Duft in der Wohnung verteilt, wird das Tor zur Spiritualität sehr weit aufgeschlossen. Das liegt daran, weil Spiritualität zutiefst mit unserer Ganzheit als Mensch in Verbindung steht. Und da gehören Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Sinneswahrnehmungen und eben auch die Erfahrung des Kuchenbackens und das dazugehörige Rezept dazu.

Ich habe den Eindruck, dass die christlichen Gemeinschaften eher für viele ein Ruhekissen darstellen. Da meint man nicht mehr ernsthaft suchen und fragen zu müssen. Existentieller Ernst ist da kaum feststellbar.
Das kommt natürlich sehr auf die Gemeinschaft an. In vielen Fällen wirst du da sicher recht haben. Aber dann wird es auch diese Fälle geben, die es wirklich sehr ernst nehmen und die mir persönlich dann aber auf ganz andere Art und Weise sehr suspekt sind. Existentieller Ernst kann leider auch sehr nah mit nicht mehr ganz so gesunden Verhaltensweisen einher gehen. Wenn die Gemeinschaften zumindest schon einmal insofern "funktionieren", dass man sich gegenseitig hilft und füreinander da ist, ist schon mal sehr viel erreicht, finde ich.

Schuld und Scham ist ja erst einmal die Grenze zum Inneren. Das muss ja überwunden werden, um zum Frieden kommen zu können.
Ich denke das ist ein lebenslanger Prozess und man kann nur hoffen, dass einem dieser Lösungsprozess nicht unnötig schwer gemacht wird und man nicht beständig auf's Neue belastet wird. Und ich fürchte, dass der Imperativ "du musst das überwinden" eventuell auch problematisch sein kann, weil sich, wenn's dumm läuft, dann sogar noch Versagensgefühle auf die Scham- und die Schuldgefühle setzen können.

LG
Provisorium