Nach meiner bisherigen Beschäftigung mit "Religion" (Schwerpunkt natürlich: Christentum) präferiere ich - um auf Deine Frage zu antworten - gar kein religiöses gar politisches System um innerdhalb diesen dann "Gottes Wort und Lehre"... zu lauschen... oder zu finden.
Eigentlich wollte ich mit meiner Frage auf etwas anderes hinaus. Mich interessiert in diesem Fall weniger welche Religion/Lehre du präferierst, sondern wo du meinst, dass sich sowas wie eine unverfälschte und unverzerrte religiöse Lehre finden ließe? Denn du erwartest ja offensichtlich, dass Rom die Lehre Jesu, unverfälscht und unverzerrt, nicht nur hätte transportieren, sondern auch (vor)leben müssen, selbst wenn der Preis dafür die "Selbstauflösung aller politischen Macht" bedeutet hätte.
Deshalb nochmal meine Frage: Wo gibt es denn sowas? Gibt es das denn in irgendeinem anderen religiösen System außerhalb des Christentums? Denn wenn es das schlussendlich eventuell gar nicht geben sollte, dann liegt das Problem vielleicht nicht allein bei Rom...?!
Soviel zur Theorie... zur "Ideal-Religion".
Die Praxis sieht (und sah vorallem) aber imho anders aus.
Da möchte ich dir gerne vehement widersprechen! Es ist keine Theorie, dass Religion und religiöse Lehren durch die Weitergabe und (zeitgeistige) Interpretation von Weisheiten, Mythen und Sprachbildern durch die Zeiten transportiert werden. Das ist Praxis! Wie sollte sich denn sonst eine jahrtausende alte Lehre praktisch in die Zukunft tragen lassen?
Aber selbst bei dieser Ideal-Ansicht bzgl. Religion und ihrer "Aufgabe" (Träger von Weisheiten)... "Schriften" sind imho auch kein zuverlässiges Mittel. Wir sehen das ja am Bibelfundametnalismus. Mündliche Überlieferung das gleiche.
Da du den Begriff "Bibelfundamentalismus" in diesem Kontext benutzt hast, möchte ich gerne darauf aufmerksam machen, dass ich unter "Bibelfundamentalismus" etwas anderes verstehe, was ich "Biblizismus" nenne. Ich gebe dafür auch gleich noch ein Beispiel, will mich aber zuvor doch nochmal rückversichern, ob ich dich richtig verstanden habe. Du verstehst unter "Bibelfundamentalismus" eine schriftliche Überlieferung religiöser Lehren, die deshalb nicht zuverlässig sind, weil sie ja von irgendwelchen Mächtigen zu ihren persönlichen Nutzen hätten gefälscht werden können? Hab' ich das richtig verstanden?
Bei der mündlichen Überlieferung siehst du dann das gleiche Problem und ich frage mich deshalb ernsthaft, wie du dir eine Überlieferung religiöser Lehren dann vorstellst und wünschst? Es darf nicht darüber geschrieben und es darf nicht darüber gesprochen werden, weil alles Geschriebene und Gesprochene ja verfälscht sein könnte...Was bleibt dann noch? Unmittelbare Inspiration und Erleuchtung ohne geschriebenes und gesprochenes Wort?
Schau was sie in "ihren Schriften" drinn stehen haben... als "heiliges Wort Gottes":
"So tötet nun alle Kinder, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben" ... Zitat aus der "Heiligen Schrift Gottes". (4. Mose 31) ... und das gesamte Kapitel ist auch nicht besser...
Gehört das für Dich "zur Essenz" der Lehren Jesus dazu?
Ich bin dir sehr dankbar, dass du diese Bibelstelle zum Thema gemacht hast! Denn das gibt mir jetzt die Gelegenheit den Unterschied zwischen deiner Vorstellung von "Bibelfundamentalismus" und dem, was ich "Biblizismus" nenne, zu erklären und darüber hinaus zu begründen, weshalb ich tatsächlich der Meinung bin, dass 4.Mose 31 sehr gerne in der Bibel stehen darf.
Vorausgesetzt ich habe deine Vorstellung von "Bibelfundamentalismus" richtig verstanden, dann lehnst du 4.Mose 31 als authentisches Gottes Wort ab und gehst davon aus, dass Mose hier Blödsinn schreibt, der mit Gott rein gar nichts zu tun hat. "Bibelfundamentalismus" ist so verstanden dann "Fälschung" und "Verzerrung" dessen, was Gott wirklich gesagt hat. Richtig?
Ich behaupte hingegen, dass 4.Mose 31 durchaus Gottes Wort ist (und ich bin sogar davon überzeugt, dass Jesus das auch so gesehen hat). Man darf es aber nicht biblizistisch verstehen und auslegen. Denn biblizistische Verständnisweise und Auslegung ist das Wortwörtlichnehmen der Schrift und genau da liegt dann das große Problem.
Tatsächlich muss ich jetzt sogar dir ein biblizistisches Bibelverständnis attestieren, denn du nimmst und verstehst den Bericht aus 4.Mose 31 ja wortwörtlich, was dann selbstverständlich im höchsten Maße Empörung hervorrufen muss und dich zu der Überzeugung gelangen lässt, dass Mose hier "Bibelfundamentalismus" treibt und Gottes Wort gefälscht hat.
Ich kann jetzt nur im Groben erklären und versuchen darzulegen, weshalb das Problem nicht darin liegt, was in 4.Mose 31 geschrieben steht, sondern im Biblizismus, aber ich will es trotzdem mal holzschnittartig versuchen. Dazu ist leider nötig, dass man bisschen weiter ausholen muss:
4.Mose 31 berichtet über den sogenannten Midianiterkrieg. Die Midianiter stammen von Midian, dem Sohn Abrahams aus seiner zweiten Ehe mit Ketura ab (1.Mose 25,+2). Im Buch Richter (Richter 6-8) erfährt man darüberhinaus, dass die Midianiter dem Volk Israel immer wieder übel mitspielten. Während der Erntezeit überfielen sie immer wieder die Israeliten und plünderten und raubten ihnen ihre Lebensgrundlage, wenn sie sie nicht sogar gleich töteten. Außerdem dienten die Midianiter laut 4.Mose 25 einem Götzen, dem sogenannten Baal-Pegor. Ein übler Geselle, der wohl (so ganz genau weiß man das nicht) sexuelle Ausschweifungen aller Art befahl. Jedenfalls wurden die Israeliten durch den Midianiter Bileam zu Hurerei und Götzendienst verführt, was die Feindschaft zwischen den Israeliten und Midianitern maßgeblich begründete. Soweit mal die biblische Darstellung der Gesamtsituation.
Ein Biblizist würde nun diese ganzen Berichte wortwörtlich und als historische Tatsache verstehen und wenn es ganz doof läuft daraus schließen, dass Gott gerne mal Kriege, bis hin zur totalen Vernichtung eines Volksstammes fordern würde. Ergo könnte man selbst ja auch mal....
Derjenige jedoch, der den Biblizismus ablehnt und trotzdem glaubt, dass uns Gott etwas wichtiges und wertvolles mit dieser Erzählung sagen möchte, geht anders mit diesen Informationen um und versucht die Essenz dessen, was da gesagt wird, freizulegen (wie man das macht kann man übrigens wunderbar bei Jesus und auch bei Meister Eckhart lernen). Ich bin dann mal so unbescheiden und versuche mich ebenfalls daran:
Die Israeliten betrachteten sich ja selbst als "das Volk Gottes", oder als "Auserwählte Gottes" und wenn man die Bibel von Anfang bis Ende liest, erfährt man, dass nicht nur die Juden, sondern alle Völker, schlussendlich also jeder einzelne Mensch von Gott auserwählt ist und zu seinem Volk gehört. Deshalb nehmen wir einmal an, dass die ganze Sache, die da zwischen den Midianitern und den Israeliten ablief, weniger von historischen Wahrheiten berichten will, als vielmehr ganz direkt zu jedem einzelnen Menschen und dessen Leben sprechen will (das will die Bibel nämlich tatsächlich ganz grundsätzlich!). Es geht dann nicht länger nur um historische Wahrheit, sondern um Wahrheit hinsichtlich des Phänomens Mensch und des Phänomens Leben, es geht um Wahrheit, die uns alle meint!
Mose wusste zwar noch nicht, was wir jetzt wissen, nämlich das mit "Gottes auserwähltem Volk" jeder Mensch gemeint ist, aber da wir das heute wissen dürfen, darf man nun die Situation, in der sich die Israeliten hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit den Midianitern befanden, ganz persönlich auf sich selbst beziehen. Damit lassen wir den Biblizismus hinter uns und öffnen uns einer lebensphänomenologischen und psychologischen Auslegung der Heiligen Schrift. Und da gibt es dann dolle Sache zu entdecken:
Die Midianiter könnten dann z.B. für all das stehen, was dir deine Ernte raubt, dich überfällt, dir deine Lebensgrundlage entzieht, ja, sogar direkt dein Leben bedroht. Heute kennt man solche Phänomene z.B. unter dem Begriff "Angst", oder "Depression", vielleicht auch "Paranoia". Außerdem haben die Midianiter das Volk Israel zu Götzendienst mit sexuellen Ausschweifungen verführt, was ein Bild dafür sein könnte, dass ein geängstigter, depressiver und paranoider Mensch verzweifelt nach Bestätigung und Freude sucht, nach irgendetwas, was ihm sein Leid leichter werden lässt. Aber was, wenn er es dort, wo er es sucht, nicht finden kann? Dann dient er bildlich gesprochen einem Götzen, der ihn nur immer tiefer in die Verzweiflung stürzen lässt.
Solch ein bedauernswerter Mensch liegt dann mit sich selbst und seinem Leben im Krieg, so wie die Israeliten mit den Midiainitern in Krieg lagen. Das grausam Abstoßende des Berichtes aus 4.Mose 31 erklärt sich nun vor dem geschilderten Hintergrund ganz leicht. Es ist ein Bild für seelische Not viel zu vieler Menschen.
Aber und das ist das großartige: Gott rettet den Menschen aus dieser Situation! Im Buch Richter (Richter, sind in der Bibel die Retter!) Kapitel 6+7 erfahren wir, dass Gott Gideon beauftragt den Israeliten zu helfen, um den Sieg über die Midianiter davontragen zu können.
Gott schickt Hilfe, er schickt den Retter aus Angst, Depression und Paranoia - das will uns Gott heute mit diese Mosegeschichte sagen! (Natürlich nur dann, wenn man die Geschichte nicht biblizistisch auslegt).
Nächstes Thema:
Könnte demnach zB Hilters "Kirche der Deutschen Christen" für Dich ein potentieller Träger der Lehren Jesus gewesen sein?
Darum ging es mir gar nicht. Mir ging es darum darzustellen, dass ich persönlich gar nicht erwarte, dass Rom oder Hitlers "Kirche der Deutschen Christen" das Evangelium transportieren. Die machten weltliche Machtpolitik und nichts außerdem.
Welches "Evangelium" meinst Du? Das vom toten Jesus am Kreuz? Das vom Bibelfundametnalismus? Ja die sind aufjedenfall noch da... in der Überzahl.
Oder meinst Du "das Evangelium" so wie Du es verstehst? Das wäre dann zwar auch noch da... aber in der (imho absoluten) Minderheit.
Ich meinte das Evangelium, das über die vier Evangelien zu uns gelangt ist.
Kennst Du eine Gemeinde wo "das Evangelium" (so wie Du es für Dich persönlich verstehst) "das Zentrum" ist?
Mein persönliches Verständnis ist ja stark eckhartistisch geprägt und eine eckhartistische Gemeinde ist mir unbekannt, aber es gibt selbstverständlich viele Gemeinden und Menschen, die sich von ganzem Herzen darum bemühen das Evangelium zu ihrem Zentrum zu machen. Anfang des Jahres ist mir ein wunderschönes Lied wichtig geworden, das eine dieser Gemeinden aufgenommen hat (der Text aus Jesaja 42 zeigt übrigens auch sehr schön was es bedeutet wenn Gott Krieg führt - er vernichtet nicht, er rettet!):
LG
Provisorium
Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist. (Meister Eckhart)
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