Für Jesus von Nazaret und seine Nachfolger war eine Vorform des Tanach mit der Torah, Prophetenbüchern, Psalmen, dem Buch Daniel und Spruchweisheit die Heilige Schrift. Jesus bezog seine Verkündigung von Beginn seines Wirkens an darauf und verstand sie als gültige Auslegung des in ihr offenbarten Willens Gottes (Mt 5,17). Ohne Hören, Lesen und Auslegen biblischer Texte, die als Gottes aktuelles Wort verstanden wurden, war den Urchristen – wie allen damaligen Juden – ihre Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes nicht möglich.
Israels Bibel blieb auch nach Jesu Tod die Norm, von der her und auf die hin die Christen den gekommenen und wiederkommenden Messias verkündeten. So betonen alle Credoformeln der Jerusalemer Urgemeinde durchweg die Schriftgemäßheit, also Übereinstimmung und Vorherbestimmung ihres Glaubens mit Israels Heilsgeschichte. Jesu Tod und Auferweckung war für sie das allein in der Heiligen Schrift erkennbare Ziel dieser Geschichte, das die biblischen Verheißungen einer endgültigen Verwandlung der Welt bekräftigte.
Indem die Urchristen Jesu Geschichte als Erfüllung der Bundesgeschichte Gottes mit Israel nacherzählten, aufschrieben und lehrten, schufen sie ein „Neues Testament“. Die Evangelien, Gemeindebriefe und Apostelgeschichte stellen Auftreten, Sterben und Auferstehen des Juden Jesus Christus als endgültige Erfüllung und Erneuerung des Israelbundes dar, so dass sich die Botschaft des NT nur zusammen mit dem AT weiterverkünden lässt.
Seit der Trennung des Christentums vom Judentum entwickelte sich der christliche Gnostizismus, der das Alte Testament als Dokument einer verworfenen, überholten und antichristlichen Religion betrachtete und aus dem eigenen Glauben ausschloss. Marcion stellte die Schöpfung durch den bösen, materialistischen Gott Israels der Erlösung durch den guten, spirituellen Geist Jesu dualistisch einander gegenüber und stellte darum einen von allen jüdischen Einflüssen gereinigten Bibelkanon vor.
Ab 150 erteilte die werdende Kirche solchen Versuchen eine Absage, indem sie das "Alte Testament" in der durch die Septuaginta überlieferten Form als vollgültiges Gotteswort übernahm und ihrem Neuen Testament voranstellte. Dies folgte der Auffassung der Urchristen, wonach der Glaube an Jesus Christus Gottes Bund mit Israel bekräftigte, nicht ablöste. Damit wurde es theologisch unmöglich, Leben, Lehre, Tod und Auferstehung Jesu Christi von der Erwählung Israels zu trennen.
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