2. Individualisierung: die Ausweisung aus der Gemeinschaft und der Zwang, für sich allein zu stehen.

Blicken wir auf die Sozialisationskultur in Deutschland. Der deutsche Soziologie Ulrich Beck hat einen neuen „Modus der Vergesellschaftung“, eine Art Gestaltwandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft festgestellt, den er als ,Individualisierung‘ bezeichnet. (Beck 1986, S. 205) Diese Entwicklung zeichnete sich schon am Ende des 19. Jahrhunderts ab und gewann in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg an Fahrt. Nach Beck hat die Moderne zu einer dreifachen Individualisierung geführt: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und - bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts - und Versorgungszusammenhänge (,Freisetzungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (,Entzauberungsdimension‘) und - womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (,Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension‘).“ (Beck 1986, S. 206)

Was Entzauberung meint, liegt auf der Hand: es gibt keine verbindlichen Sinnsysteme mehr, auf die sich alle bezögen. Das wurde nicht erst durch die Aufklärung in Gang gesetzt, erhielt aber dort seine moralische und politische Rechtfertigung. Ganz entscheidend haben im 20. Jahrhundert die Medien, und hier vor allem das Fernsehen, dazu beigetragen, dass aus der Darstellung der Fülle des Lebens für alle ein Schluss herauskam: Für fast alles gibt es gute Gründe, und kein Wert und keine Norm, kein Geheimnis und kein Glaube ist im Prinzip besser oder schlechter als ein anderer. Entzauberung heißt denn auch, dass naives Vertrauen auf irgendeinen Sinn nicht mehr möglich ist. Das Individuum muss im Grunde ohne Netz und doppelten Boden alles selbst erfinden, entscheiden - und vor anderen rechtfertigen! In dieser Hinsicht trifft es den einen mehr und den anderen weniger. Der eine ist zu einem solchen Verhalten mehr in der Lage als ein anderer; dieser ist in soziale Beziehungen eingebunden, die eine relative Sicherheit in dieser Hinsicht geben, und jener ist ratlos auf sich gestellt. Der soziale Wandel besteht in einem Mentalitätswandel, in dem es auch um emotionale Sicherheit und Gewissheit der eigenen Person und die Stellung zur Gesellschaft geht.

Als einen Kristallisationspunkt der zweiten Dimensionen der Individualisierung, der Freisetzung, nennt Beck die „Herauslösung aus ständisch geprägten sozialen Klassen“ (Beck 1986, S. 208). An die Stelle von Ständen und Klassen, aber auch geschlossenen Milieus, in denen sich Individuen gemeinschaftlich verbunden fühlen, sind lockere und wechselnde Verbindungen getreten, in denen sich Individuen in jeweiligen Rollen und mit sachlichen Absichten gegenüberstehen. Beck bezeichnet die Gesellschaft sogar als Loseblattsammlung von Individuen!
Einen zweiten Kristallisationspunkt der Freisetzung sieht er in der Veränderung im familialen Beziehungsgefüge. Auch hier ist es so, dass sich die Individuen immer seltener als ganze Person aufgehoben und gefordert fühlen, sondern jeder Einzelne trägt seine zahlreichen Rollen und Identitäten, die sich alle einer differenzierten gesellschaftlichen Funktionalität verdanken, mit sich herum. Warum brauchen sie überhaupt eine Familie? Beck gibt eine scharfe, desillusionierende Antwort: In der Familie gehen sie „ein eigenartig widerspruchsvolles Zweckbündnis zum geregelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf“ (Beck 1986, S. 208f.) ein! Aus der Sicht einer älteren, kritischen Theorie könnte man sagen: die gesellschaftlichen Verhältnisse, die durch Funktionalität und Entfremdung der Person gekennzeichnet sind, schlagen auf die Familie als Idee ursprünglicher Gemeinschaft durch und reproduzieren dort gleiche Sozialisationsstrukturen. Das Individuum wird freigesetzt von einer Gemeinschaft und in seiner Fähigkeit beansprucht, sich immer und überall in seinen gesellschaftlichen Rollen zurechtzufinden. Das allein ist schon schwer genug. Noch schwerer ist aber die Forderung, angesichts der Pluralität und Widersprüchlichkeit dieser Rollen so etwas wie eine unverwechselbare Identität zu zeigen. Wahrscheinlich erhalten wir uns auch nur die Phantasie, dass wir das könnten, weil wir sonst die Vertreibung aus der Geborgenheit dieser und anderer Gemeinschaften nicht ertragen könnten!
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Ein Ziel des neuen Denkens dürfte allerdings klar sein: Der Widerspruch zwischen Institutionen und individuellen Lebenslagen schreit geradezu danach, das Dritte zu suchen: Gemeinschaft.
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An die Gesellschaft sind wir durch Funktionalität gekettet. Das macht sie trotz aller Komplexität und Widersprüchlichkeit in gewisser Weise kalkulierbar und aushaltbar.
An Gemeinschaften können wir uns binden, weil sie jenseits sachlicher Funktionalität stehen. Sie funktionieren nach dem Prinzip des Vertrauens. Dafür gibt es keine rationale Begründung und keine einklagbare Garantie. Aber es tut der Seele gut.