Oh je, da hat thalestris ja etwas angefangen. Aber ist es nicht faszinierend, wie schnell eine Diskussion auflebt und wer sich alles regt, sobald es um Lebensfeindlichkeit und Lust geht?^^
Nein im ernst, ich will versuchen die an mich gerichteten Fragen so gut es geht zu beantworten. Vielleicht erst einmal zu dir Saved…. Aber dir ist hoffentlich klar, dass du einen kleinen Roman erwarten musst.^^

Zitat von
saved
Ganz unvoreingenommen bist du ja dem "Christentum" gegenüber nicht (was ja auch nicht "schlimm" ist, und auch glaube ich, mich erinnern zu können, dass du oft und gern grenzwertige Extreme anführst, um Dinge "zu verdeutlichen"
Natürlich habe auch ich eine innere Haltung, jedoch bemühe ich mich redlich mich auf sachliche Argumente zu beschränken. Aber auch ich bin nur ein Mensch.^^ Die Verwendung von extremen Beispielen dient nun wider der Veranschaulichung, denn die Struktur eines Argumentes wird uns eben da meist deutlicher bewusst. Deshalb möchte ich mich entschuldigen, wenn der Eindruck entstanden ist, ich würde andeuten wollen, dass sexuell exklusiv lebende Menschen in ihrer Sexualität keine Bereicherung erleben. („sexuell exklusiv lebend“ klingt unnötig kompliziert, ich erlaube mir es im weiteren Verlauf als „sexklusiv“ abzukürzen) Natürlich ist mir bewusst, dass dem so ist. Das in meinen Augen moralisch fragwürdige ist auch nicht die Bereitschaft zur sexuellen Ausschließlichkeit im Sinne einer Selbstbestimmung. Wer diese Leben möchte soll das natürlich tun und darin sein Glück finden. Moralisch fragwürdig erachte ich lediglich die Fremdbestimmung, also die Forderung der Ausschließlichkeit gegenüber dem Partner und die Forderung nach dessen Verzicht unter „Androhung“ der eigenen Verweigerung – dieser Grundsatz „wenn du mit mir willst, dann musst du dich auf mich beschränken“. Und hier habe ich mit dem Beispiel des Schuhe-Kaufens versucht zu verdeutlichen, dass dies eine Forderung ist, die in fast allen anderen Lebensbereichen doch deutlich bizarr wirken würde.
Auch mein Hinweis auf Sexualität als Handlung, die erst mit einem Bedeutungsinhalt gefüllt werden muss, sollte nicht andeuten, dass sexklusive Menschen sich dessen nicht auch bewusst sein können. Aber ich habe durchaus nicht selten den Eindruck, dass im Fall von Sexualität der Handlung selbst eine moralische Qualität zugeschrieben wird, ohne nach deren Intention zu fragen. Bis hin zu dem Punkt – so erging es einmal einer Bekannten – dass ein Mensch in einem Moment der Intimität „schwach“ wird, sich auf eine sexuelle Begegnung einlässt, und am „Morgen danach“ für sich folgert, dass er dann ja seinen Partner nicht lieben kann und sich von ihm trennen muss. Was wie sich zeigte eine fatale Fehleinschätzung war. Glücklicherweise war ihre Beziehung stabil genug diesen Moment zu verkraften. Und durch dieses Erlebnis zum Nachdenken gebracht leben sie mittlerweile mit drei Kindern in einer glücklichen offenen Beziehung und betätigen sich u.a. als Paartherapeuten.^^

Zitat von
saved
Ich glaube auch nicht, dass Eifersucht und dgl., wie du es beschriebst, anerzogene Emotionen und Verhaltensweisen sind, sondern, dass sie, wie alles, was dem Ego entspringen, eh in uns steckten. Sonst müsste doch auch Neid anerzogen oder erlernt sein, und wir beide (als Eltern) wissen, wie Kinder sich im Sandkasten verhalten, wenn es um meiiiine Buddelschippe geht... :-))
Dem würde ich so nicht ganz zustimmen. In der Psychologie unterscheidet man zwischen Basisemotionen und komplexen Emotionen. Basisemotionen sind dabei Emotionen, die nicht weiter auf grundlegendere Emotionen reduziert werden können und deren mimische Repräsentation zudem auch in allen Kulturen und von allen (gesunden) Menschen gleichermaßen sicher erkannt werden, eben ganz unabhängig von der eigenen Sozialisation. Komplexe Emotionen jedoch sind tatsächlich sehr stark durch die Erziehung und die jeweilige Kultur bestimmt, weshalb u.U. ein Mensch aus einem Kulturkreis ohne z.B. die Forderung der sexuellen Treue Eifersucht in diesem Kontext nicht nur nicht empfindet, sondern auch eine entsprechende Reaktion seines Gegenübers nicht deuten könnte. Wir können z.B. auch nicht wirklich nachempfinden, warum eine iranische Frau sich möglicherweise schämt, wenn sie sich unverschleiert zeigen müsste. Scham ist ebenfalls ein ganz klassisches Beispiel für ein sozialisiertes Gefühl. D.h. vereinfacht gesagt selbst wenn Eifersucht als emotionale Empfindung zu unserer Natur gehört, bestimmt doch die Kultur ihr Erleben.

Zitat von
saved
Aus der anderen Perspektive beteachtet - also die meine - haben die Gebote hinsichtlich der Beziehungen und Ehe immernoch eine nicht zu unterschätzende Schutzfunktion
Was nun die Ehe als Schutzfunktion betrifft, da hast du sicherlich recht, das diese sehr lange diesem Zwecke diente. Allerdings ist die Situation heute doch eine andere, denn nicht mehr vornehmlich wirtschaftliche Gründe spielen – wie es ursprünglich war – bei der Ehe die entscheidende Rolle, noch ist Sexualität ausschließlich an die Zeugung von Nachkommenschaft gebunden. Als Argument muss ich offen gestehen, halte ich beide Aspekte auch für eher schwach. Zum einen war auch früher schon die Ehe als Zweckgemeinschaft nicht zwingend mit sexueller Ausschließlichkeit verbunden. Zum anderen ist auch die Möglichkeit der ungewollten Schwangerschaft als Argument ein Schwaches, denn von den Verhütungsmitteln abgesehen (die ich schon aus gesundheitlichen Gründen für ein Muss erachte), könnte man ansonsten unfruchtbare Menschen oder z.B. Frauen jenseits der Wechseljahre davon ausnehmen.
Was nun aber den Schutz der Kinder betrifft, so ist das auch für mich ein wichtiger Punkt. Ich kann an dieser Stelle auch nicht auf die Vielzahl an möglichen normativen Regelungen im Zusammenhang mit offenen Beziehungsformen eingehen. Das füllt ganze Bücher.^^ Aber um ehrlich zu sein scheint es mir, dass ein offenes Beziehungskonzept hier u.U. sogar zum Vorteil gereichen kann. Stelle dir z.B. eine Gesellschaft vor, in der aufgrund der allgemeinen Akzeptanz der offenen Beziehungsform die Ehe als Lebenspartnerschaft primär der Aufzucht von Kindern dient. Hier ist die von dir wertgeschätzte Sicherheit der Kinder gegeben. Und sie wird auch nicht durch den Umstand bedroht, dass ein Partner aufgrund seines Bedürfnis nach sexueller Selbstverwirklichung außerhalb einer jeweils nur exklusiven Beziehung die bestehende Partnerschaft aufgeben muss. Ein Bedürfnis, dass in Umfragen der letzten 20 Jahre wohl konstant von ca. 65 +/-10% der Befragten bejaht wird und welche die Forderung nach lebenslanger Ausschließlichkeit zurückweist. Ein Bedürfnis, dem de facto in verschleierter Form auch nachgegangen wird. Was aber ist dann besser? Mehrere Beziehungen nacheinander zu führen, mit den entsprechenden Konsequenzen für die Kinder – oder sie nebeneinander zu führen, wobei ggf. mit einer Basisbeziehung der sichere, familiäre Rahmen für die Kinder gegeben und die Zugehörigkeit der Kinder nicht über biologische Abstammung sondern über die Zugehörigkeit zur Familiengemeinschaft bestimmt ist?
Nur um es noch einmal klar zu sagen, es soll niemand zu etwas gezwungen werden, was er nicht will. Aber beide Konzepte können durchaus funktional sein, und in einem offenen Beziehungskonzept besteht auch die Möglichkeit sich freiwillig für Exklusivität zu entscheiden – umgekehrt aber nicht.

Zitat von
saved
.. und da ist der nächste Stichpunkt: Verantwortung übernehmen wollen... Viele Menschen wollen eine gute Zeit haben, aber sich ein Hintertürchen offenhalten, aus dem sie sich verabschieden können, wenn ihnen etwas nicht ins eigene Konzept passt, oder der Sexualpartner plötzlich unbequem wird, weil er plötzlich zu anhänglich wird, oder "Ansprüche stellt"..
Nein Adi, deine Kritik nehme ich durchaus „sportlich“ und nicht persönlich. Sie ist ja auch nicht unberechtigt. Wobei auch in meiner Beziehung der Partner Ansprüche stellt.^^ Nur Exklusivität auf sexueller Ebene gehört eben nicht dazu. Natürlich mag es so scheinen, dass man sich ein Hintertürchen offen hält. Allerdings kann auch die Ehe nicht verhindern, dass einer der Partner sich verabschiedet. Und wo die moralische Norm es doch tut (z.B. mit Scheidungsverbot), mag dies für die Beteiligten zur Hölle werden. Was dir thalestris sicherlich gerne bestätigen wird.

Zitat von
saved
Denn wer weiß, ob sich nach längerer gemeinsamer Zeit es sich der Partner nicht doch überlegt und die offene Beziehung in eine monogame wandeln möchte. Ja, was dann?? Hält die(se) Liebe dem stand? Worauf ist man dann bereit zu" verzichten"? Auf die eigene Lust, die man nicht disziplinieren will - man vllt, Sorge hat, etwas zu verpassen, oder dass es "langweilig" werden könnte - oder auf den u. U. langjährigen Partner?
Eine gute Frage. Aber darf ich hier deinen Hinweis erwidern und darauf hinweisen, dass der Eindruck entstehen könnte, bestimmender Grund sei bei Vertretern einer offenen Beziehung prinzipiell die Lust? Denn dem muss nicht zwingend er Fall sein.^^ Davon abgesehen kann man auch den Spieß umdrehen. Denn worauf ist denn der sexklusive Partner bereit zu verzichten? Auf die über lange Jahre gewachsene und von Vertrauen geprägte Partnerschaft die in der bedingungslosen (d.h. von Bedingungen freien) Liebe begründet war, der Bereitschaft einander so zu nehmen wie man ist – mit allen Wünschen und Bedürfnissen und dem Wunsch dem anderen die Freiheiten zu geben sich selbst zu verwirklichen? Oder ist ihm der eigene Besitzanspruch über den Partner wichtiger, aus … ja aus welchem Grund überhaupt? Weil man ihn nicht teilen will? Oder weil man sich selbst in seinem Selbstwert oder seinem Vertrauen unsicher ist? Welchen Grund gibt es hier zu benennen, der gewichtig und moralisch genug ist seinen Partner dazu aufzufordern, auf seine Möglichkeit zur emotionalen und sexuellen Selbstverwirklichung und auf die Möglichkeit Vertrautheit und Zuneigung auch körperlich ausdrücken und durch die gemeinsame Erfahrung vertiefen zu können zu verzichten?
Man könnte also provokant fragen, wer hier mehr auf sein Ego fixiert ist? Der Partner, der Sexualität als Möglichkeit nutzt, in welcher und vermittels welcher er einem anderen Menschen in inniger Zuneigung zu begegnen vermag? Oder der Partner, der einen Menschen nur für sich haben und im Glauben, er alleine reiche aus alle Bedürfnisse des Partners zu befriedigen, das eigenen Bedürfnisse nach Ausschließlichkeit diesem zur Pflicht machen will? Du siehst, man kann es von beiden Seiten her sehen.^^

Zitat von
saved
Ich bezog mich nicht auf ein Opfer Gott gegenüber, sondern gegenüber dem Lebens- oder Ehepartner. Wobei ich es ideal finde, wenn von beiden Seiten einfach das Bedürfnis da ist, Sexualität "nur" mit diesem auszuleben und der Wunsch nach anderen Partnern gar nicht erst existent ist.
Etwas anderes ist, wenn ein Partner von sich heraus verzichtet, ganz klar. Gegen diese Haltung gibt es grundsätzlich nichts einzuwenden, obschon ich selbst eben nicht sehe, weshalb es soviel besser sein sollte, sein Bedürfnis nur auf einen Menschen zu beschränken bzw. was dagegen spricht auch den Wunsch nach anderen Partnern zuzulassen. Dennoch halte ich es für sehr wichtig, dass dieses Opfer freiwillig und reflektiert erbracht wird. Freiwilligkeit aber erfordert die Möglichkeit sich anders entscheiden zu können. Die moralische Forderung nach Exklusivität wie auch die Androhung des Beziehungsabbruchs bei sexueller Untreue verbietet das. Und darin sehe ich den wesentlichen Unterschied. Der Unterschied zwischen der traditionellen bzw. exklusiven Beziehung und der offenen Beziehung ist der Unterschied zwischen Zwang und Freiheit – NICHT die Frage wie sie genutzt wird.

Zitat von
saved
Also bis auf den letzten Satz haben wir vielleicht doch mehr gemeinsam, als man hätte erwarten können..^^
Daran hatte ich nie Zweifel. Ich glaube auch, dass sehr viele Paare eine Beziehung führen, die außer im sexuellen Bereich eine sehr offene ist. Und das dieser letzte Bereich bei ihnen „geschlossen“ bleibt, ist wiederum eine Folge von teils Überzeugung und teils emotionaler Befindlichkeit, die ich auch nicht verurteilen würde.
Wir alle versuchen letztlich unseren Platz in und unseren Weg durch die Welt zu finden. Und jeder muss sich und seinem Gewissen gegenüber treu bleiben. Und mal ehrlich... ist es nicht wunderbar, wie bunt doch die Welt ist.^^
Ganz liebe Grüße dir
Lior
Es sei bitte berücksichtigt, dass meine Besuche zeitweise durch lange Pausen unterbrochen werden. Sollte ich also eine an mich gerichtete Frage überlesen, bzw. nicht unmittelbar beantworten, dann ist dies bitte nicht als Ausdruck des Desinteresses zu werten - ggf. hilft auch mal eine Erinnerung.
Lesezeichen