Du musst dir das vielleicht so vorstellen, dass durch die Lehre Jesu zunächst einmal ein großes Maß an Freiheit in das Leben der Gläubigen getreten war. Denn ein frommer Jude musste eigentlich sehr viele Regeln beachten, so dass der gesamte Tagesablauf massiv davon beeinflusst war. Es gibt ja insgesamt 613 jüdische Gesetze, deren Einhaltung von den Schriftgelehrten und Pharisäern auch durchaus "überwacht" wurde.
In Matthäus 22, 34-40 ist so eine "Überwachung" beschrieben und dort kommt auch die Freiheit zum Ausdruck, die durch Jesu Lehre in das Leben der Christen getreten war. Dort steht:
Als aber die Pharisäer hörten, dass er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, versammelten sie sich miteinander. Und es fragte einer von ihnen, ein Gesetzesgelehrter, und versuchte ihn und sprach: Lehrer, welches ist das größte Gebot im Gesetz? Er aber sprach zu ihm: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand." Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Das ganze Gesetz und die Propheten, also auch alle 613 Gebote, werden nach Jesus durch das Liebesgebot hinreichend beachtet und das schafft natürlich eine (Glaubens)Perspektive, die den Gläubigen dazu befreit, sich auf das Wesentliche (nämlich die Liebe zu Gott) konzentrieren zu können, ohne dabei befürchten zu müssen, dass man sich gegenüber einem der 613 Gebote unangemessen verhält.
Tatsächlich war natürlich auch Paulus bewusst, dass im Mittelpunkt des christlichen Glaubens die Liebe steht (man denke nur an 1.Korinther 13,1ff - dem "Hohelied der Liebe"), aber er war als Apostel eben auch sehr in Sorge, dass in den Gemeinden die gewonnene Freiheit zu Problemen führen könnte. So schreibt er z.B. den Korinthern in seinem ersten Brief (1.Korinther 6,12):
Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist nützlich. Alles ist mir erlaubt, aber ich will mich von nichts beherrschen lassen.
Und der Gemeinde in Galatien schreibt er (Galater 5, 13+14):
Denn ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder. Nur gebraucht nicht die Freiheit als Anlass für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe! Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."
Du siehst also, liebe thalestris, dem Paulus war das Liebesgebot absolut bewusst und er wusste daher natürlich auch von der damit verbundenen Freiheit. Er mahnte nur davor, dass wir mit der Freiheit nicht leichtfertig umgehen sollen, weil er wusste, dass man dann ganz schnell in neue Abhängigkeiten geraten kann, die einem letztlich gar nicht gut tun.
Der christliche Glaube will also keinesfalls alles Körperliche verdammen, oder unsere Bedürfnisse und Triebe unterdrücken, aber er möchte uns sicher davor bewahren, dass wir in schmerzhafte Abhängigkeiten geraten.
LG
Provisorium
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