Der Abend dämmerte herein. Es war zum Verzweifeln.
Ich dachte scharf nach. An irgendetwas mußte ich mich doch orientieren können. Die Menschen früher konnten das doch auch. Dann fiel mir ein, daß sie sich irgendwie an den Gestirnen orientiert hatten. Nur wie?
Ich dachte weiter nach. Wo war die Sonne, als ich in den Wald ging? Sie stand hoch am Himmel und ging dann, soweit ich mich erinnern konnte, ziemlich genau in der Richtung unter, in die ich lief. Also müßte ich, um die richtige Richtung zu finden, mich entgegengesetzt der Sonne bewegen.
Aber dafür war es zu spät, denn es wurde dunkel, immer finsterer.
Im Taiga-Wald wird es Nachts unglaublich finster. Wenn das Mondlicht nicht durch die Bäume scheinen kann, ist man eingehüllt von völliger Dunkelheit. Komischerweise macht diese völlige Dunkelheit weniger Angst, als ein mondbeschienenes Dunkel mit schemenhaften Schatten, die man nicht deuten kann.
Ich konnte Knacken hören, Schritte. Irgendwo unmittelbar in meiner Nähe mußten sich Tiere befinden, größere Tiere, aber ich konnte nichts erkennen. Ich fühle noch heute, wie mir das Herz bis zum Hals schlug und ein Adrenalinstoß nach dem anderen meinen Körper durchzuckte.
Man möchte schreien und weglaufen, angetrieben von diesen Stößen, aber wo soll man in der Finsternis bitte hinlaufen.
Ich hatte zu lang gezögert, nun war es zu dunkel um einen Baum zu finden, den ich sicher erklimmen konnte.
Noch eine Nacht allein hier draußen... wieviele noch?
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich im Unterholz zu verkriechen, unter Äste und dem morschen Überrest eines gefallenen Baumstammes.
Ich fror, und der Hunger kam wieder. Und diese Geräusche, überall diese Geräusche. Ich fühlte mich so unsicher auf dem Boden. Im Wald gab es Wölfe und Bären. Wenn ein Wolf mich finden würde, hätte ich nicht den Hauch einer Chance.
Ich konnte nicht schlafen, meine Angst war viel zu groß. Meine Ohren spitzten sich bei jedem kleinen Knacken, immer auf Lebensgefahr gefaßt.
Ich lag da und harrte aus. Es verging Stunde um Stunde, endlos, wie Tage.
Würde es jemals wieder hell werden? Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt...
Doch es wurde natürlich irgendwann hell.
Ich hatte das Gefühl, die Nacht hätte doppelt so lang gedauert, wie sonst.
Ich war wieder steif gefroren und behalf mir mit einem kleinen Feuerchen.
Als ich dann einigermaßen aufgetaut war und mein Kopf wieder anfing zu arbeiten, rief ich mir meine Gedanken vom gestrigen Abend in Erinnerung.
Orientierung anhand der Sonne. Ich wollte mich in die entgegengesetzte Richtung der Sonne bewegen. Das würde natürlich nur funktionieren, wenn ich nirgends abgebogen war, aber ich wußte leider nicht mehr, ob ich das getan hatte, also hoffte ich einfach nur auf etwas Glück.
Der Hunger meldete sich wieder in ganzer Härte. Ich fror und fühlte mich schwach und zittrig. Ich weinte, als ich anfing, meinen Weg fotzusetzen.
Wie tief war ich wohl im Wald? Ich wußte es nicht.
Vor mir ging die Sonne auf, ich ging ihr entgegen. Ich lief und lief und lief.
Es erschienen nach einer Weile einige Punkte, die mir bekannt vorkamen. Aber ich konnte nicht zuordnen, ob ich sie von meinem 2-tägigen Herumirren kannte oder ob sie in Richtung zu Hause führten.
Ich lief einfach weiter, die Sonne stieg immer höher und setzte ihren Weg entgegen meiner Richtung fort.
Irgendwann jeoch verließen mich die Kräfte. Ich konnte nicht mehr laufen, ich hatte das Gefühl, daß jeden Moment meine Beine nachgeben und ich zusammenklappen müßte. Also legte ich eine Rast ein. Es war gegen Mittag, aber ich hatte den Eindruck, noch nicht allzu weit gekommen zu sein. Ich lief auch sehr langsam. Ich hatte keine Energie mehr für einen straffen Marsch.
Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an einen Baumstamm. Ich war müde und döste ein wenig in der Spätvormittagssonne.
Als ich wieder ein wenig munterer wurde, sah ich mir die Umgebung genauer an.
Moment mal, war das nicht...?
... War das nicht eine Lichtung, auf der ich schon öfters gewesen war?
Ja, es kam mir alles furchbar bekannt vor. Der alte Baumstumpf, und der umgefallene Stamm über den trockenes Gras wucherte und der mich immer ein bißchen an eine riesige Makkaroni mit Käse erinnerte.
Ja, ich wußte wieder, wo ich war! Und ich wußte, wie ich von hier aus wieder nach Hause komme!
Unglaublich, ich hatte wirklich mehr Glück als Verstand. Ich konnte es immernoch nicht glauben, aber angetrieben von diesem Hochgefühl rannte ich los, sicher, schnell, Richtung Zuhause.
Und dann kam sie in Sicht, die Siedlung. Ich kann die ganze Zeit nicht mehr als 3 oder 4 Kilometer von zu Hause entfernt gewesen sein. Mir fiel ein Stein vom Herzen, doch gleichzeitig begann ich auch, mich innerlich anzuspannen. Ich hatte gemischte Gefühle. Ich würde sicher furchtbar ausgeschimpft werden, wenn ich nach Hause komme.
Ich war zweieinhalb Tage verschollen gewesen. Zweieinhalb Tage in der Wildnis und keiner wußte, was mit mir geschehen war.
Ich zögerte. Ich hatte das Gefühl, es sei noch nicht ganz ausgestanden.
Aber mein unerträglich knurrender Magen trieb mich letztendlich dazu an, nach Hause zu laufen.
Zaghaft öffnete ich die Tür. Ich sah niemanden. Die älteren Kinder waren in der Schule und die kleineren bei meiner Mutter, die scheinbar nicht zu Hause war.
Es war seltsam, ich war so lange weg und nun war keiner da, um mich zu empfangen.
Doch plötzlich sah ich meine Oma, wie sie aus einer Zimmerecke langsam auf mich zukam. Sie rieb sich wirklich ungläubig die Augen.
"Bist du es? Träume ich? Bist du wirklich zurückgekommen? Stehst du wirklich hier und lebst?"
Ich rannte auf sie zu und sprang in ihre Arme. Das war ihr Beweis genug. Sie weint vor Freude.
Dann rannte sie, halb weinend, halb schreiend zur Tür hinaus:
"Olga! Olga, wo bist du? Er ist wieder da! Sava ist wiedergekommen!"
Nach kurzer Zeit kam meine Mutter aus dem Haus der Nachbarn gestürmt und stürzte sich halb weinend, halb schimpfend auf mich.
Dann gingen wir in unser Haus zurück, ich bekam Essen und mußte alles erzählen. Meine Oma und meine Mutter und später auch meine Geschwister die von der Schule heimkamen und ebenfalls gar nicht glauben konnten, daß ich wieder da ist, schüttelten dabei immer wieder den Kopf.
Man hatte scheinbar nach mir gesucht, jedoch erfolglos.
Sie hatten wirklich geglaubt, ich sei für immer weg. Tot, erfroren, von wilden Tieren zerrissen, von Wilderern entführt, was auch immer. Verständlich, denn dies alles war auch wahrscheinlicher, als die Tatsache, daß ich wirklich lebendig aus der grünen Hölle entkommen war.
Am Abend kam mein Vater nach Hause.
Nie werde ich sein enttäuschtes Gesicht vergessen, als er sah, daß ich wieder da war.
Später, wenn er mal wieder wütend war, sagte er oft zu mir:
"Ich wünschte, du wärst für immer in diesem Wald geblieben."
ENDE
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