Zitat Zitat von net.krel Beitrag anzeigen
Aber daß es eine Perspektive gibt "aus der heraus [gesehen] alles gut ist"... nee... Nein... Nein Nein Nein... einfach Nein.
Ach herrje...Ich hatte ja wirklich gehofft, dass ich mir das sparen kann, dass ich also nicht gezwungen bin, hier mein komplettes Weltbild darstellen zu müssen, denn das Problem hängt ganz einfach nur mit den unterschiedlichen Weltbildern zusammen. Aber gut, dann tu ich's halt trotzdem. Das geht allerdings nicht in kurz, sondern nur in nervig lang...

Der moderne Mensch ist heutzutage ja für gewöhnlich Realist. Er hält die Welt um sich herum, die Welt in der er lebt und auch sich selbst für real. Wenn er ein bisschen wissenschaftlich interessiert ist und sich einmal mit den Neurowissenschaften auseinandergesetzt hat, dann weiß er aber, dass zum Beispiel Farben nicht real vorhanden sind. Die Welt ist eigentlich ohne Farbe und bunt wird die Welt erst dadurch, dass unser Gehirn, also unsere Erkenntnis, unser Erkennen, den Gegenständen Farbe zufügt. Die Farbigkeit der Welt ist also quasi im Erkenntnisprozess geschaffen und nicht real und wirklich vorhanden.

Nun gibt es eine Erkenntnistheorie, den so genannten Radikalen Konstruktivismus, die besagt, dass nicht nur die Farben im Erkenntnisprozess geschaffen werden, sondern restlos alles Erscheinende im Erkennen geschaffen und also nicht wirklich und substantiell vorhanden ist. Dieser Denkrichtung fühlt sich das Provisorium verbunden, weshalb auch sofort deutlich wird, weshalb das Provisorium ein Provisorium ist...:-) Da diese einleitenden Worte aber mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten, erzähl ich mal kurz (also so kurz wie irgend möglich) weshalb ich so denke:

Der olle Immanuel Kant führte in der Philosophie ja einen radikalen Perspektivenwechsel durch, den er nach seinen eigenen Worten mit dem der Kopernikanischen Wende verglich, die das bis dahin geltende geozentrische Weltbild geradezu auf den Kopf stellte. Er sagte:

Es ist hiermit ebenso als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen.

Mit seinem neuen Denkansatz stellte Kant die bisherigen Erkenntnistheorien in gleicher Weise auf den Kopf, indem er sagte:

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten....Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten.

Die von uns erkannten Gegenstände der Welt sind nach Kant nicht die realen Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen, die nicht unabhängig von unserer Erkenntnis objektiv in Raum und Zeit vorhanden sind. Raum und Zeit sind vielmehr unsere Anschauungsformen oder Erkenntnisstrukturen, nach denen die Gegenstände geformt und in denen sie so erkannt werden, d.h. nicht nur einige Eigenschaften der Dinge wie ihre Farben werden erst in dem Erkenntnisprozess geschaffen, sondern dieses Schaffen betrifft nach Kant auch die Grundstrukturen der Dinge, ihr Sein in Raum und Zeit. Das Ansichseiende (der Dinge) kennen wir nach Kant so gar nicht und weder die von uns erkannte Welt der Erscheinungen noch unsere von vornherein, a priori, vorhandenen Erkenntnisstrukturen wie die von Raum und Zeit haben mit dem Ansichseienden etwas zu tun. Daher kann nach Kant über die Dinge an sich oder der unserer (erkannten) Erscheinungswelt zugrundeliegenden Realität grundsätzlich nichts ausgesagt oder erkannt werden. Er sagt:

Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.

Wenn nun aber in dem Denkansatz von Kant die von uns erkannte Welt bis in ihre Grundstrukturen von Raum und Zeit hinein in unseren Erkenntnisstrukturen geschaffen wird und wir die Dinge an sich oder die zugrundeliegende Realität daher in keiner Weise kennen oder erkennen, so heißt das nichts anderes, als dass diese von uns erkannte Welt nicht in der Weise objektiv vorhanden sein kann, wie wir das allgemein, sowohl im Alltag als auch in der modernen Naturwissenschaft voraussetzen, empfinden und meinen.

Dieser Denkansatz von Kant, dass auch die grundlegenden Strukturen des Raumes und der Zeit nicht objektiv in der von uns erkannten Welt vorhanden sind, sondern nur a priori gegebene Anschauungsformen sind, in denen die gesamte von uns erkannte Welt geschaffen wird, findet sich dann schließlich heute in der umstrittenen Theorie des Radikalen Konstruktivismus wieder.

Dieselben Gedankengänge wie bei Kant findet man aber schon in der Philosophie Meister Eckharts, der allerdings neben Raum und Zeit auch das Sein selbst zu diesen Anschauungsformen zählt. Dadurch bezeichnet er die eigentliche Realität als Einheit und nicht wie Kant im Plural als "Dinge" an sich. Wir erkennen demnach in der Welt voneinander getrenntes Sein in Raum und Zeit, vor allem auf der materiell-körperlichen Ebene, aber auch hinsichtlich unseres eigenen, persönlichen und geistigen Seins. Doch die eigentliche substantielle und einheitliche Realität, das Ansichseiende Kants und/oder die Gottheit, das Eine bei Meister Eckhart, können "wir" sowohl nach Kant als auch nach Meister Eckhart grundsätzlich nicht erkennen. Nach Kant und Eckhart ist die von uns erkannte Welt bis in ihre Grundstrukturen hinein daher nicht wirklich und objektiv »da«, was mit keinerlei Art von (weltlichem) Realismus mehr zu vereinbaren ist. Denn für einen Realisten muss es zwingend irgendeinen Bezug des erkannten Seins zu einer bewusstseinsunabhängigen Realität geben, die darin dem erkannten Sein die vorausgesetzte Realität verleiht und in dem wir diese Realität dann auch erkennen können, und sei es nur indirekt und in einer hypothetischen Weise durch das Denken.

Wie ist nun aber dann die Welt nach Eckhart beschaffen? Er sagt dazu:

Ich habe schon manchmal gesagt, Gott erschaffe diese ganze Welt voll und ganz in diesem Nun. Alles, was Gott je vor sechstausend und mehr Jahren erschuf, als er die Welt machte, das erschafft Gott jetzt allzumal. [...] Dort, wo niemals Zeit eindrang, niemals ein Bild hineinleuchtete: im Innersten und im Höchsten der Seele erschafft Gott die ganze Welt. Alles, was Gott erschuf vor sechstausend Jahren, und alles, was Gott noch nach tausend Jahren erschaffen wird, wenn die Welt (noch) so lange besteht, das erschafft Gott im Innersten und im Höchsten der Seele. Alles, was vergangen ist, und alles, was gegenwärtig ist, alles, was zukünftig so ist, das erschafft Gott im Innersten der Seele.

Die gesamte Welt ist nach Eckhart also nicht in einem einmaligen Akt in einer absoluten Zeit, einem absoluten Raum und als reales Sein geschaffen worden, wie es uns als Wesen und Kreatur in dieser Welt erscheint, sondern die Welt ist als ein andauernder Schaffensprozess des Innersten des Geistes oder der Seele zu verstehen (die dann in ihrem Grund nicht mehr als individuell angesehen werden kann) und da „wir“,
ja mit all unseren Seins- und Erkenntnisstrukturen selbst erst ein Teil oder eine Folge dieses Schaffensprozesses sind, können wir diesen quasi nicht von außen beobachten und erkennen. Dieser Schaffensprozess bleibt uns grundsätzlich verschlossen.

Wenn wir direkt erkennen könnten, wie die Welt aus dem Absoluten bzw. dem Seelengrund hervorgeht oder wie sie mit diesem verbunden ist, würden wir genau darin auch etwas von dem Absoluten selbst erkennen, das so auch Teil der Welt wäre. Dann wären die Eigenschaften und Strukturen von Welt und Absoluten nicht mehr strikt getrennt und dadurch wäre es wieder ein Realismus und kein Idealismus mit einem unerkannt bleibenden Absoluten und auch keine negative Theologie. Denn negative Theologie sagt ja gerade aus, dass man das Absolute nicht erkennen kann, dass es keinerlei Übereinstimmung mit dem weltlichen Sein hat und grundsätzlich nicht damit identifiziert werden kann.

Und wenn die Welt, so wie uns erscheint, gar nicht real vorhanden ist, sondern lediglich im Erkennen konstruiert und das eigentliche Reale, also Gott, für unser Erkennen "unerreichbar" ist, dann kann man nur allein dadurch, der dieser Welt zugrunde liegenden Realität, also Gott, gewahr werden, wenn man diesen, im Innersten des Geistes stattfindenden Prozess zum Aussetzen bringt. Das meinte Meister Eckhart als er zum Beispiel sagte:

Darum, willst du leben und willst du, dass deine Werke leben, so musst du für alle Dinge tot und zunichte geworden sein. Es ist der Kreatur eigen, dass sie aus etwas etwas mache; Gott aber ist es eigen, dass er aus nichts etwas macht. Soll daher Gott etwas in dir oder mit dir machen, so musst du vorher zu nichts geworden sein. Darum ist einzig der nur ein gerechter Mensch, der alle geschaffenen Dinge zunichte gemacht hat und geradlinig ohne alles Auslugen auf das ewige Wort hin gerichtet steht und darein eingebildet und widergebildet der Gerechtigkeit. Ein solcher Mensch empfängt dort, wo der Sohn empfängt und ist der Sohn selbst. Könntest du dich selbst vernichten nur für einen Augenblick, ja, ich sage, selbst für kürzer als einen Augenblick, so wäre dir alles das eigen, was es in sich selbst ist.

Mit "vernichten" meint Eckhart nichts anderes, als das Zunichtewerden der Erkenntnisstrukturen, das "Verlöschen" des "Ichs". Und er sagt darüber weiter:

Ebenso sage ich von dem Menschen, der sich zunichte gemacht hat in sich selbst, in Gott und in allen Kreaturen: Dieser Mensch hat die unterste Stätte bezogen, und in diesen Menschen muss sich Gott ganz und gar ergießen, oder - er ist nicht Gott. Ich sage bei der ewigen und immerwährenden Wahrheit, dass Gott sich in einen jeglichen Menschen, der sich bis auf den Grund gelassen hat, seinem ganzen Vermögen nach völlig ergießen muss, so ganz und gar, dass er in seinem Leben, in seinem Sein, in seiner Natur noch auch in seiner ganzen Gottheit nichts zurückbehält: das alles muss er in befruchtender Weise ergießen in den Menschen, der sich Gott gelassen und die unterste Stätte bezogen hat.

Das ist die Stätte, an der zum Beispiel Jesus stand, oder Buddha, oder Plotin, oder Pophyrios, oder wie sie alle hießen, die eine Einheitserfahrung mit Gott gemacht haben, auch wenn sie dabei nicht alle von Gott sprachen, was logisch ist, weil in dieser Einheitserfahrung ja nichts erkannt werden kann, was mit der weltlichen Erkenntnis übereinstimmen würde und also erkennt man in dieser Erfahrung auch nicht Gott, soweit er mit einer bestimmten Vorstellung verbunden ist. Trotzdem ist es schon nicht falsch von Gott zu sprechen, da mit der Vorstellung "Gott" ja gemeinhin sowas wie die höchste Erkenntnis verbunden ist. Eckhart war da konsequenter und er unterschied Gott und Gottheit. Gott ist der gedachte Gott des Menschen und die Gottheit ist das überseiende Eine, über das man keine Aussage tätigen kann.

Die Perspektive, aus der heraus alles gut ist, ist also keine rosarote Brille, sondern ihr liegt der erkenntnistheoretische Ansatz des Konstruktivismus zu Grunde und das spirituelle "Streben" nach geistiger Armut, nach dem Ende, dem Aussetzen aller Erkenntnis. Wir Menschen konstruieren diese Welt, wir sind dementsprechend auch verantwortlich für diese Welt und also auch im hohen Maße für das Leid, das wir hier auf Erden schaffen, wenn es nicht als natürliches Übel, aufgrund physikalischer Gesetzmäßigkeiten geschieht.

Ich denke es liegt im hohen Maße an einem selbst, wie man mit erlebten Leid umgeht, umgehen kann. Je mehr das Herz des Menschen an ganz bestimmten Dingen hängt, also je mehr Realität er den Dingen um sich herum zugesteht, desto schwieriger wird es ihm fallen, wenn er eines Tages gezwungen sein sollte davon zu lassen. Irgendwann aber müssen wir alle alles lassen, weil "nackt sind wir gekommen und nackt müssen wir gehen". ;-)

Menschen aber, die eine Einheitserfahrung mit Gott hatten, die bereits zu Lebzeiten alles gelassen und die unterste Stätte bezogen hatten, leben aus einem anderen Bewusstsein heraus, aus dem Bewusstsein, dass die eigentliche Realität jenseits unserer weltlichen Erkenntnisstrukturen liegt und sie wissen, dass sie substantiell damit verbunden sind. Dies ist der allergrößte Trost, der es auch geschehen lassen kann, dass man ans Kreuz genagelt wird, dass man verfolgt und einem übel mitgespielt wird. Sie haben die Welt überwunden, wie Jesus sagt. Und er sagt noch mehr, er sagt, dass wir zuerst nach dem Reich Gottes streben sollen und uns dann alles zufallen wird. Das Reich Gottes ist dieser Einheitsvollzug jenseits unserer weltlichen Erkenntnis, der "Ort" an dem man Gott bildlos erkennt und über den Meister Eckhart sagt:

Du sollst ihn bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis. Soll ich aber Gott auf solche Weise unmittelbar erkennen, so muss ich schlechthin er, und er muss ich werden. Genauerhin sage ich: Gott muss schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eins, dass dieses »Er« und dieses »Ich« Eins ist, werden und sind und in dieser Seinsheit ewig ein Werk wirken. Denn, solange dieses »Er« und dieses »Ich«, das heißt Gott und die Seele, nicht ein einziges Hier und ein einziges Nun sind, solange könnte dieses »Ich« mit dem »Er« nimmer wirken noch eins werden.

Das ist möglich durch das "Zunichtewerden" unseres "Ichs" und dann vollzieht sich gesetzmäßig das, was Eckhart einmal so beschrieb:

Lausche (denn) auf das Wunder! Wie wunderbar: draußen stehen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und (zu gleich) das Geschaute selbst sein, halten und gehalten werden - das ist das Ziel, wo der Geist in Ruhe verharrt, der lieben Ewigkeit vereint.

Dort gibt es dann kein Leid mehr, nichts was wir uns vorstellen könnten und die gute Nachricht ist, das wir bereits jetzt und heute damit verbunden sind. Wenn einem das bewusst wird, dann braucht man keine rosarote Brille um zu wissen: Alles ist gut!

LG
Provisorium