Rabbi Chanina ben Dossa


Der weise Rabbi Chanina ben Dossa besaß nichts, er brauchte nichts, und er lebte nur für die Lehre der heiligen Thora.
Seine Frau freilich brauchte allerhand, die kam aus den Sorgen nicht heraus. Währen Rabbi Chanina den ganzen lieben Tag in gelehrten Diskussionen mit seinen Schülern verbrachte, von denen er kein Schulgeld nahm, wusste seine Frau nicht, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollte. Am bittersten empfand sie ihre Not an jedem Vorabend des Shabbat. Zu dieser Zeit trafen alle anderen Frauen Vorbreitungen für das festliche Mahl, sie reinigten den Fisch und kneteten den Teig für die Brote, nur die Frau des hochgelehrten Rabbis hatte nichts zu tun. Es gab nur Johannisbrot im Haus. Ihre Armut quälte die Frau und sie suchte sie zu verbergen. Am Vorabend des Shabbat steckte sie stets ein Scheit Holz in den Herd und zündete es an, damit der Rauch aus dem Kamin stieg, als ob auch in Chaninas Haus Brot gebacken würde.
Chaninas Frau hatte eine böse Nachbarin. Als diese den Rauch aus dem Kamin aufsteigen sah, dachte sie: “Die Frau vom Rabbi heizt sicher im leeren Herd. Wo sollten denn die armen Schlucker Geld für den Fisch und das Mehl hernehmen!“ Schnell entschlossen eilte die neugierige Nachbarin in Chaninas Haus, um sich zu überzeugen, ob sie Recht hatte.
Kaum hörte Chanina Frau ihre Schritte, verbarg sie sich vor Scham in der Kammer. Die Nachbarin aber lief geradewegs in die Küche und schaute in den Backofen. Wie groß war ihre Überraschung, als sie goldbraun gebackene Brote erblickte. „He! Nachbarin!“, rief sie. „Wo steckt ihr denn? Das Brot ist fertig!“ Da betrat Chaninas Frau die Küche und sprach: „ich wollte gerade die Brote herausnehmen!“ Sie lächelte die Nachbarin an und diese verließ beschämt Chaninas Haus.
An diesem Tag konnte die Frau des Rabbiners seine Rückkehr kaum erwarten. „Er weiß so viel“, dachte sie, „Er muss dieses Wunder getan haben. Würde er das häufiger tun, müssten wir kein Hunger mehr leiden!“
Als nun Chanina nach Hause kam, eilte ihm seine Frau entgegen und wollte ihm sagen, was ihr am Herzen lag. Der Rabbi indes kam ihr zuvor. „Ich habe getan, was ich tun musste“, sagte er. „Denk aber nicht, dass ich von allein Wunder tun kann: Ohne den Willen G“ttes kann der Mensch keinen Finger rühren. Sei froh, dass wir heute frisch gebackenes Brot haben und denke nicht an morgen.“
Abends kamen zwei Gäste, um den Shabbat zu feiern. Die Gäste aßen und tranken und lobten das gastliche Haus des Rabbiners. Zeitig am Morgen machten sie sich wider auf den Weg. Kaum waren sie fort, als die Frau des Rabbiners mit einem Huhn gelaufen kam, das gackerte und mit den Flügeln schlug. „Sieh nur!“, rief sie, „was deine Gäste bei uns vergessen haben! Vielleicht erreichst du sie noch!“
„Aber ich weiß nicht, woher sie gekommen sind und wohin sie gehen“, sagte Chanina. „Wir müssen das Huhn so lange betreuen, bis sie zurückkommen.
Es verging ein Tag, dann ein zweiter und ein dritter, aber die frommen Männer kamen nicht, um ihr Huhn abzuholen. Unterdessen hatte das Huhn begonnen, Eier zu legen. „was sollen wir mit den Eiern machen?“ fragte Chaninas Frau. „Wir ernähren uns nur von Johannisbrot, da könnten wir ein paar Eier gut gebrauchen!“
„Nein“, entgegnete der Rabbi. „Die Eier gehören uns nicht. Lass die Henne ruhig Eier legen und sie dann ausbrüten!“
Und so geschah es. Bald waren flaumige Küken aus den Eiern geschlüpft, und diese wuchsen und wurden groß, und legten ihrerseits Eier, die sie ausbrüteten. Da Rabbi Chanina keinen Hühnerstall besaß, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Hühnervolk in sein Haus zu nehmen. „Die Reisenden werden bald vorbeikommen“, tröstete er seine unglückliche Frau, „und sie nehmen dann alles mit, was ihr eigen ist.“
Jedoch die Zeit verging und niemand kam, um die Henne und ihre Nachkommen abzuholen. Chanina und seine Frau litten jetzt nicht nur Hunger, sie litten auch an Platzmangel, denn im ganzen Haus flatterte und gackerte es wie in einem Hühnerstall. Da entschloss sich der Rabbi, die Hühner zu verkaufen und für ihren Erlös Ziegen anzuschaffen, die er dann den Eigentümern der Henne übergeben würde. Gesagt – getan: Rabbi Chanina kaufte die Ziegen. Und da die Männer noch immer nicht kamen, warfen die Ziegen Junge, und Rabbi Chanina und seine Frau lebten nun in einem Ziegenstall.
„Ich muss auch die Ziegen verkaufen“, beschloss der Rabbi eines Tages. „für den Erlös will ich Gerste anschaffen.“
Also verkaufte der Rabbi auch die Ziegen, kaufte Saatgut und bestellte sein Feld so gut, dass es eine reiche Ernte erbrachte. Da musste er eine Scheune bauen, um das Getreide zu lagern, und im nächsten Jahr war die Ernte noch besser.
Endlich - volle drei Jahre waren vergangen – klopften die Reisenden wieder an Chaninas Tür. Chanina erkannte sie sofort und sagte: „Ihr habt vor drei Jahren ein Huhn bei mir vergessen!“
„Gewiss wir haben ein Huhn bei dir gelassen“, meinten die Männer, „aber es hat uns nicht gefehlt.“
„Das Huhn ist euer Eigentum“, antwortete der Rabbi. „Ich bin froh, dass ich es euch zurückgeben kann. Kommt und seht, was aus eurem Huhn geworden ist!“
Dann führte der Rabbi seine Gäste in den Speicher, wies auf das Getreide und sprach: „Seht, das ist eure Henne. Sie legte Eier, aus den Eiern schlüpften Küken, die groß wurden und ihrerseits Eier legten, die sie ausbrüten. Ich verkaufte die Hühner und schaffte für den Erlös Ziegen an. Als auch die Ziegen sich vermehrten, verkaufte ich auch sie und schaffte Saatgut an. Und seht: G“tt hat mein Tun gesegnet. Bitte nehmt es, es ist euer Getreide!“
Die Reisenden waren verwirrt. „Verehrter Rabbi“, sprach der Älteste gerührt, „so etwas haben wir fürwahr nicht erwartet. Als wir vor drei Jahren bei euch zu Gast waren, habt ihr euer letztes Brot mit uns geteilt. Wir wussten, dass ihr kein Geschenk annehmen würdet, obgleich ihr Not leidet. Deshalb haben wir als Dank ein Huhn zurückgelassen, und so getan, als hätten wir es vergessen. Aber das Huhn, verehrter Rabbi, war ein Geschenk für dich und deine Frau; es war dein Eigentum. Wenn dieses Huhn dazu beigetragen hat, deinen Besitz zu vergrößern, so soll es eine Freude sein!“
Chanina ben Dossa aber wollte das Getreide um keinen Preis behalten; und die Männer wollten es um keinen Preis annehmen. Da erzählte ihnen der Rabbi ein Gleichnis, um seine Haltung zu erklären. Es war die Geschichte von den zwei Schafen, die einen tiefen Fluss überqueren wollten. Das eine Schaf hatte ein dichtes, prächtiges Fell, das andere hingegen war frisch geschoren. Was aber geschah? Die dichte Wolle des ersten Schafes sog das Wasser auf und war bald so schwer, dass sie das Tier in die Tiefe zog und es ertrank. Das zweite Schaf indes besaß nichts als seinen nackten Körper und erreichte daher unbehindert das Ufer. „Auch ich fühle mich ohne Besitz wohl und unbeschwert“, schloss der Rabbi sein Gleichnis. „Daher werde ich mein Getreide an Arme verteilen. Ihr wolltet mir mit euerem Geschenk eine Wohltat erweisen, ich werde das Gleiche tun, indem ich mich von dem Besitz befreie.“
Da verneigten sich die beiden vor Chaninas Güte und gingen ihres Weges. Und sie erzählten überall die Geschichte vom Rabbi, der sich lieber von Johannisbrot ernährt, als einen vollen Getreidespeicher zu besitzen.

Quelle: Irgendwo gefunden im www.