Der Frömmeler
In der Stadt lebte ein Mann, von dessen Frömmigkeit redeten die Leute so viel, dass er in ihrem Munde den Beinamen des Frommen erwarb.
Als er einmal erkrankte und die Seinen erführen, dass etliche aus der Stadt zu Rabbi Nachum, des Riziniers Sohn, zogen, um sich von ihm segnen zu lassen, baten sie diese, auch des „Frommen“ vor den Zaddik zu gedenken.
Die Leute willfahrten ihrer Bitte; mit den Zetteln, auf die die Namen geschrieben waren, gaben sie Rabbi Nachum auch den Zettel mit dem Namen des Kranken und sagten, das sei eine Mann, weitberühmt um seines strengen Lebens willen und der Fromme geheissen.
„Ich weiss nicht,“ erwiderte der Rabbi, was das ist, ein Frommer, und auch von meinem Vater habe ich nichts darüber erfahren. Aber ich meine, es sei eine Art Kleid: Der Oberstoff ist aus Überhebung und das Futter aus Groll, und genäht ist es mit den Fäden er Schwermut.“
Aus „Das verborgene Licht“ von Martin Buber
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