Telefonitis

Ich bin bekennender Rassist! Ich hasse sie. Alle: Schwarze, Weiße, Farbige - einfach alle. Ich hasse Telefone. Ich habe ein gestörtes Verhältnis zu ihnen.
Telefone erniedrigen die Kommunikation zwischen den Menschen auf ein menschenunwürdiges, dem Sinn des Gespräches und der zwischenmenschlichen Kommunikation diametral zuwiderstehendes Niveau. Ja, ich behaupte, und man kann es im folgenden nachprüfen, daß das Telefon der Feind der Menschheit schlechthin ist.

Jüngst saß ich mit meiner Familie gemütlich beim Abendessen. Beinahe überirdischer Frieden schwebte über Wurstplatte und Teekanne. Traute Gespräche zwischen den Familienmitgliedern, in gedämpftem Ton gehalten, beherrschten die Szene: „Laß deinen Fuß vom Tisch!" „War ja gar nicht mein Fuß, das war Maja." „Du bist gemein. Immer mußt du petzen!" „Ich habe nicht gepetzt." „Hast du doch, außerdem war das Papas Fuß!" „Hört jetzt endlich auf zu streiten!" „Ich streite nicht. Mona streitet. Ich hab' ganz ruhig hier gesessen..." ,Ja, und dabei der Cillie dein Wurstbrot in die Ohren geschmiert!" „Ruhe jetzt. Oder ihr geht alle ohne Essen ins Bett!" „Au ja!" quiekt Mona, welche zu dieser Zeit ein ähnlich gestörtes Verhältnis zu Wurstbrot und Früchtetee hat, wie ihr Papi zum Telefon und wetzt mit Warp 7 die Treppe hoch ins Kinderzimmer. „Bleibst du wohl hier" brüllt Papi, aufs äußerste erbost und ruft seine vierköpfige Kinderschar mit Donnerhall nochmals und sehr grundsätzlich zur Ordnung.

In dieses stille abendliche Idyll also gellt mit enervierender Lautstärke das Telefon. Papi bleibt ruhig sitzen. Seine Ehefrau, die beste von allen, jedoch kann kaum den Impuls unterdrücken, aufzuspringen und zum Telefon zu stürzen. Gerade, daß sie sich noch beherrschen kann fragt sie mit erzwungener Ruhe: „Wer könnte das sein?" obschon sie genau weiß, daß es nur Schwiegermutter sein kann. Oder Schwiegerpapa. Oder Bekannter X oder Bekannte Y oder eine falsche Verbindung oder das Elektrizitätswerk oder der Tierpark Hagenbeck oder Bundeskanzler Kohl. „Ist doch egal", sagt Papi gelassen. „Kann ja später noch mal anrufen." „Und wenn es wichtig ist?" fragt seine beste Ehefrau von allen mit nur mühsam unterdrückter Unruhe. „Kann so wichtig gar nicht sein", sagt Papi, immer noch ruhig, rückt allerdings auf seinem Stuhl kaum merkbar etwas nach vorne. „Nicht so wichtig, daß wir uns beim geruhsamen Essen stören lassen müssen." „Stimmt, eigentlich hast du recht", lenkt schließlich die beste Ehefrau von allen ein, mitten in das achte oder neunte aufdringliche Gebimmel hinein. „Seht ihr, Kinder", doziert Papa vor seiner andächtig lauschenden Kinderschar (vierköpfig!), „man muß nicht immer rennen, nur weil das dumme Telefon mal klingelt. Da wird nur die dem Menschen leider oftmals eigene, primitive Neugier genutzt und befriedigt."

Und während er noch ein Stückchen weiter auf dem Sitz seines Stuhls vorrückt, gibt er noch zu bedenken: „Solche Hektik, also wenn man sich vom Telefon dauernd tyrannisieren läßt, kann außerdem schon in jungen Jahren Verdauungsstörungen hervorrufen." Sprach's und sprang, mitten im 12 Klingeln, von seinem Stuhl auf und gleichzeitig in Richtung Zimmertür. Mama, beste Ehefrau usw., hat das vorausgesehen und springt auch auf. Da sie leichter als Papa und somit schneller ist, außerdem hat sie den kürzeren Weg zur Tür, ist sie gleichzeitig mit ihm an der Zimmertüre. Das bedeutet Verhängnis. Breiter Papa, schlanke Mama - die Türzarge weigert sich einfach, breiter zu werden und so bleiben beide Eltern mit einem Schmerzensschrei in eben jener Türzarge stecken. Telefon schrillt, Mama jammert, Papa ächzt, die Kinder johlen und der Hund findet, daß das ein tolles Spiel sein müsse, kläfft aus Leibeskräften und haut mit Papis Puschen ab. Nur durch gemeinsame Aktion aller vier Kinder können die Eltern aus der unnachgiebigen Türöffnung befreit werden.

Erschöpft sinken alle wieder auf ihre Plätze. Stille! Das Telefon schellt nicht mehr. Später, die Kinder sind im Bett, der Hund war mit Papa Gassi, sitzen beide Eltern im Wohnzimmer. „Wer könnte da nur angerufen haben?" „Vielleicht meine Mutter?" „Nein, so lange läßt die es nicht klingeln." „Und wenn es Johannes-Hubertus gewesen ist? Er wollte uns doch sagen, wie es um seinen Goldhamster steht nach der Operation." „Was für 'ne Operation?" „Weißt du das nicht mehr? Dann scheint dir die Freundschaft zu Johannes-Hubertus ja nicht viel zu bedeuten!" „Na, man kann doch mal was vergessen. Also, was für eine Operation?" „Das arme Tier. Denk' doch, das kleine Kerlchen hatte Hämorrhoiden! Sollten heute entfernt werden"?!?

„Vielleicht waren es doch meine Eltern. Vielleicht ist ihnen ja was passiert. Ob ich mal anrufe...?"