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Thema: das Alte

  1. #1

    Standard das Alte

    In einer abgelegenen Waldhütte lebte einst ein alter Mann mit seinen Söhnen.

    Ihr Reichtum war nicht Gold oder Silber, sondern die Jahreszeiten selbst gaben ihnen, was sie zum einfachen Leben brauchten. Es vergingen viele Jahre, in denen die Lebenskraft in den Söhnen zunahm und jeder von ihnen trug alsbald ebenso wachsendes Wissen in sich.
    Einer der Söhne wusste gut mit selbstgeformten Waffen, so manch leckeren Braten zu erlegen. Ein anderer hatte Freude daran, sein Geschick mit Holz an und in der Waldhütte zu verfeinern. Während einer der Söhne Getreide, Pflanzen und Kräuter hinter dem Häuschen anbaute und pflegte, schwang am Abend ein anderer die Töpfe und Pfannen, so dass die geschmackvollsten Gerüche bald darauf an den hungrigen Mägen vorbei durch die Stuben quollen.

    Als nun der Alte eines Tages die herangewachsenen jungen Männer zu sich rief, blickte er nachdenklich in die Runde seiner Kinder. Seine Augen waren mit den Jahren trüb und seine Kräfte weniger geworden . Doch während er sich umsah, empfand er keine Traurigkeit, sondern Stolz und Zufriedenheit, denn auch wenn ihm bewusst war, dass es galt Abschied zu nehmen, so stimmte es ihn froh zu sehen, wie viel seine Söhne dennoch von ihm gelernt hatten.
    „Ihr habt alles von mir gelernt, was ich euch lehren konnte.“ begann der alte Mann mit schwerem Atem zu erklären.
    „Es ist Zeit für mich, in die Halle der Seelen zurück zu kehren. Dort werden wir uns wiedersehen, wenn ihr einst euer Lebenswerk, wie ich nun hier, beendet haben werdet. Solange werden wir uns nicht mehr sehen.“

    Nicht nur der knorrige, schwere Holzstuhl am Ende des langen Tisches blieb fortan leer, auch die raue Stimme des Alten fehlte in Gesprächen und die geschickten Hände bei so mancher Arbeit im Hause.
    Bald drohten die Erinnerungen an den Vater zu verblassen, so dass sich einer der Söhne vornahm, zu Papier zu bringen, was ihm an Worten und Taten des alten Mannes im Gedächtnis geblieben war.
    Die Lieblingsmahlzeit wurde an Festtagen zu Ehren des Vaters zubereitet und der alte Hobel, hing an einem besonderen Ehrenplatz über der Werkbank.
    Die Jahre gingen ins Land und während sich im Wald Winter und Frühling die Hände reichten, fehlte in der Waldhütte immer mehr der gemeinsame Friede.
    Die Söhne stritten bald über alles, was jedem von ihnen nahezu heilig geworden war. Man hatte zwar möglichst genau darauf achten wollen, wie der Vater zu ehren sei. Doch das Lieblingsessen des Alten, so warf man dem kochenden Sohn vor, schmeckte längst nicht mehr so wie in früheren Tagen und auch das Aufgeschriebene der Erinnerungen, brachte den Vater nicht mehr zurück.
    Unzufriedenheit und Besserwisserei machte sich in den Gemütern breit. Doch so sehr sich nun jeder noch mehr bemühte; das Holz schien nicht mehr so sauber gearbeitet wie zu Vaters Zeiten, die Tiere im Stall blickten trauriger als unter der Fürsorge des Alten und am Abend, nach getaner Arbeit, fehlte sinnvolles Gespräch.
    Als nun der Streit allzu heftig unter den Geschwistern wurde, wehte ein stürmischer Wind durch den Kamin und setzte die Waldhütte gänzlich in Flammen. Heimatlos und entsetzt saßen die Söhne hilflos unter einer Eiche und konnten nur das letzte Klimmen des Feuers von Ferne betrachten.
    Nun war alles verloren- der Hobel, die Rezepte, das Geschriebene und jede kunstvolle Schnitzerei.
    Verzweiflung, Entsetzen und Wut erfror die Herzen der Söhne. Alles, was sie ehrten und je besaßen, war nun zum Fraß der Flammen geworden.

    Ein Windhauch säuselte leise durch die Stille des Blätterwerks und mitten in die Ratlosigkeit flüsterte eine alt vertraute Stimme: „Meine lieben Söhne, eines gibt es, dass ich euch erst jetzt lehren kann: Was vergangen ist, das kehrt nicht wieder und sei es noch so wertvoll. Kein Streit und nichts mit Händen Geschaffenes vermag, die Zeit an zuhalten, allein es im Innersten zu bewahren ist ein guter Lebensweg. Es ist eine große Aufgabe, das Eigene im Atem des Alten zu leben.“


    (mit freundlicher Genehmigung von Sarah Winterberg)
    Geändert von bonnie (02.03.2013 um 09:51 Uhr)

  2. #2
    Jamie Gast

    Standard

    Sehnsucht geweckt - in genau so einer Hütte möchte ich mit meinen Tieren leben dürfen......

    Wunderschöne Geschichte......

  3. #3
    Registriert seit
    30.10.2012
    Beiträge
    238

    Standard

    Hallo Bonnie

    "Deine" Geschichte gefällt mir. Danke


 

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