Die Jahre gingen dahin, Name und Person verschwanden in den Langzeiterinnerungen vieler Menschen, die ihn gekannt hatten und wuchsen im Sagenschatz des einen oder anderen Bewohners zu einer skurrilen Art von Held - ein Eulenspiegel, der wohl aber „nicht ganz richtig“ gewesen sein soll.

Es war ein sonnenklarer Spätsommertag gewesen und er hatte an jenem Sonntag so sattgolden über dem Land gelegen, wie ein reifer Wein sich in seinem funkelnden Glase rekelt. Als die Sonne sich senkte und die Farbe ihres Lichtes von hellem Gold in kupfernes Rot zu ändern begann, ergriff mich die Lust, noch ein wenig an die Luft zu gehen.

Es gibt eine Stelle, an die es mich immer wieder hinzieht. Von dort kann man weit ins Land hineinschauen und dennoch nur wenige Meter weiter rasch in einem kühlenden Meer von grünen Blättern eintauchen, um von dort stundenlange Waldspaziergänge zu unternehmen.

Als ich den Ort erreicht hatte, stellte ich meinen Wagen in einem kleinen Feldweg ab und stieg aus. Ein ganz leiser Wind hatte sich erhoben und fächelte über die Ebene. Die Obstbäume um mich herum raschelten zuweilen mit ihrem sich langsam färbenden Laub. Ab und an fiel mit leisem dunklem Plumps ein Apfel oder eine Birne zu Boden. Tief sog ich die herbe Luft in mich ein. Es roch ein wenig nach Erde, nach trockenem Gras und dürrem Laub, und vom Wald her zog ein dünner, moschusartiger Duft nach Humus und Pilzen herüber.

Ich nahm den Weg unter die Füße und schritt dem Walde zu. In die Stille hinein war nur das behutsame Rascheln von Laub und Gras zu hören und ab und an schmetterte ein Vogel sein Abendlied über die Felder.

Je mehr ich mich dem Wald näherte, desto fremder schien er mir zu werden. Zuerst bemerkte ich diesen Umstand nicht. Doch als ich registrierte, daß das Licht viel schneller, als um diese Jahreszeit normal, einer fremdartigen Dunkelheit wich, beschlich mich zunehmendes Unbehagen. Nur noch ein fahler Schein erleuchtete den Weg vor mir, die Umgebung um mich herum blieb weitgehend im Dunkel verborgen. Ich bekam Zweifel, ob ich wirklich weitergehen sollte und hatte mich schon zum Umkehr entschlossen, als ich vor mir Lichter durch die Bäume sah. Beinahe etwas erleichtert beschleunigte ich meinen Schritt und gelangte wenig später in ein Dorf, welches meinem Heimatort vollkommen glich. Die Hauptstraße lag gelb-rot beleuchtet von Straßenlaternen vor mir, schon von hier erkennbar lag das Rathaus rechts, etwas versetzt hinter der Kirche, davor der Parkplatz, der dort vor wenigen Jahren eingerichtet worden war. Ich hielt inne. Wie war das möglich? Hatte ich das Dorf doch wenig zuvor verlassen und mich davon entfernt. Wie konnte ich jetzt auf der Dorfstraße stehen?

Ich zwinkerte etwas, schloß kurz die Augen - und stand plötzlich im Licht der wärmenden Sonne auf unserem Rathausplatz. Leise, liebliche Töne hörte ich, ohne indessen den Ort ihrer Herkunft bestimmen zu können. Sie schienen den Himmel zu erfüllen und waren überall in gleichem Maße vernehmbar. Das Licht schien noch goldener als sowieso schon an diesem Tag und sogar die Häuser, Straßen, ja Bäume und andere Pflanzen schimmerten in warmgoldenen Schein. Als ich einige Schritte auf unser Rathaus zutrat erkannte ich, daß es völlig wie mit Gold überzogen zu sein schein. Neugierig schritt ich die Treppe hinauf zum Eingang des Rathauses. Die gläserne Tür schimmerte goldfarben und öffnete sich ohne mein Zutun. Im Inneren des mir als „Rathausflur“ bekannten Raumes herrschte das gleiche helle, warmgoldene Licht, wie schon draußen.

Ich blieb verwirrt stehen. Was sah ich hier? Welcher Illusion erlag ich? Hatte mich auf meinem Spaziergang der Schlag getroffen - und wo um alles in der Welt war ich denn nun? Wo war ...

Jetzt schossen mir Gedanken durch den Kopf. Alles golden - alles - aus? Gold?? Meine Schritte auf dem goldfarbenen Fußboden klangen anders, als ich es kannte. Es waren außer der betörend lieblichen und gleichzeitig überwältigend majestätischen Musik keine anderen Geräusche hörbar.

Sollte das der Himmel sein? Ich - im Himmel??

Freilich - ich hatte mir vorgestellt, daß ich nach meinem Tode in den Himmel - ins Paradies käme. Daß das jedoch so völlig übergangslos, fast unmerklich, beinahe so wie nebenbei geschehen würde - das verblüffte mich sehr.

Meine Stimme klang zaghaft dünn, als ich fragte: „Ist noch jemand hier?“ Und ich fuhr mit fürchterlichem Schrecken zusammen, als mir eine rauhe, harsche - und irgendwie vertraute - Stimme laut, aber durchaus freundlich antwortete: „Aber klar ist noch jemand hier! Kennst Du den alten Schlucksl denn nicht mehr?“, und sein rauhes kehliges Lachen füllte meine Ohren. Eine Gestalt trat mir vor die Augen, in der ich zweifelsfrei den alten Schlucksl, den Dorfdeppen, den Paria unseres Dorfes, erkennen konnte. Ich kann in diesem Augenblick nicht geistreich ausgesehen haben.

Freundlich lächelnd kam er auf mich zu und es war nichts von dem in seinem Lächeln erkennbar, was mich früher so geärgert und was wohl auch andere Menschen provoziert hatte. Er legte mir beide Hände auf die Schultern, daß mir ein warmer Strom durch die Glieder rann und sagte: „Jaja, ich weiß. Ich war keine berühmte Nummer in unserem Dorf. Ich hab‘ viele geärgert und hab‘ ein fürchterliches Leben geführt. Ich war einfach nichts wert im Dorf...“

Und er berichtete mir von seinem Leben voller glücklicher und unglücklicher Wechselfälle, wobei die unglücklichen bei weitem überwogen. „Jesus bin ich was wert“, sagte er mir zum Schluß unserer Begegnung. „Sieh Dich um, wo ich alter Säufer gelandet bin.“ Ich war sehr verlegen, als er mir so freundlich in die Augen sah. Ich wußte nichts, was ich hätte sagen können. Schließlich nahm er meine Rechte in seine beiden Hände, drückte sie warm und sagte: „Sehen wir uns wieder?“

Ich nickte nur, sprechen konnte ich nicht.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich die sinkende Sonne eben noch hinter dem Wald auf unserer Höhe verschwinden. Nachdenklich schritt ich meinen Weg voran.