Der Dorfdepp

Manchmal ärgerte ich mich über ihn. Beispielsweise, wenn er, schmuddelig und mit verfilzt und verschwitzt aussehendem Schopfe vor dem Haus des örtlichen Getränkehändlers an der Gehsteigkante stand, in einer Hand die unvermeidliche Flasche Bier und in der anderen Hand die ebenso unvermeidliche Zigarette. Er war eher klein von Gestalt, mit rundem Kopf, einem meistens unrasiertem Gesicht in dem zwei kleine Augen von tiefdunklen Schatten umrandet lagen. Wir kannten einander - wie man einander eben kennt, wenn man sich beinahe täglich sieht, jedoch nie ein Wort miteinander wechselt.

Er - er war der „Schlucksl“. So genannt, weil es eigentlich niemanden gab, der ihn jemals ohne Flasche Bier in der Hand gesehen hatte. Er war der „Paria“ unseres Dorfes, einer, über den man sich, je nach Ausgangssituation, ereiferte, ärgerte, amüsierte, den man belächelte, verspottete, in dessen Gegenwart man die Nase rümpfte und sich voll Abscheu von den ihn umgebenden Gerüchen abwandte, einer, der auch schon mal, wenn junge Burschen aus dem Dorf angetrunken ihr Mütchen zu kühlen suchten, „Dresche“ bezog oder mit Tritten oder Püffen wie ein herrenloser Hund davongejagd wurde. Er war einer, der junge Mädels plump auf der Straße ansprach, der Ältere mit dumpfen Sprüchen beehrte und die, die mit erhobener Nase an ihm vorübereilten, mit wieherndem Gelächter und beißendem Spott zur Weißglut treiben konnte. Er war der, der bei jeder kleinsten Dorfsensation - sei es Wasserohrbruch, Viehdiebstahl, totgefahrene Katze oder Verkehrsunfall - als erster vor Ort auftauchte, als wäre er derjenige, der das aktuelle „Event“ gerade inszeniert hatte. Er war es, der in solchen Fällen auch stets die besten Ratschläge anzubringen wußte. Er war es, der beim Verladen des Sarges dem Toten mit einem Bier in der Hand zugröhlte: „Prost, altes Haus, jetzt hat er dich auch kassiert. Wart‘ nur, deine Witwe wird schon Trost finden...“

Schlucksl war es aber auch, der bei dem Feuer in dem Haus, in dem eine kurdische Familie wohnte, hinzugeeilt war, als von der Feuerwehr noch niemand zu sehen und zu hören war und schnell, wortlos und mit viel Mut und Geschick drei kleine Kinder aus den tobenden Flammen holte und dann auch noch - selbst schon mit rauchenden Kleidern - deren beiden Eltern ins rettende Freie brachte. Drei Wochen lang soll er danach halb tot auf seiner Bettstatt im Nachbarort gelegen haben - das alles jedoch erfuhr man nicht von ihm. Eines Tages stand er eben wieder auf seinem gewohnten Platz, zeigte vorüberfahrenden Autofahrern den „Stinkefinger“ und gröhlte mit seiner heiseren, rauchigen Stimme aus einem Mund, in dem kaum noch Zähne erkennbar waren. Wiederum war es Schlucksl, der in aller Heimlichkeit der alten Frau Traueralt aus dem Bus half und ihr ihre schweren Einkaufstaschen durch das ganze Dorf in ihr kleines und halbverfalles Häuschen brachte. Gesehen haben will es allerdings niemand.

Er war es auch, der sonntags oft in üblicher Staffage vor dem Kirchentor stand und die die Kirche verlassenden Gottesdienstbesucher um eine „milde Gabe“ anbettelte und bei Nichterfolg wütend und schmollend pöbelte und spottete.

Ja, Schlucksl war ein unbedingt liebenswerter Bursche - der vermutlich unbeliebteste und unwichtigste Mensch in unserem Dorfe, den niemand brauchte und niemand vermißte und dem wohl auch niemand je eine Träne nachweinen würde, wenn er denn irgendwann seinen letzten Gang antreten würde.

Doch wenn er einmal - wie damals nach dem Brand bei den Kurden - fehlte und zwei Tage nicht auf der Straße erschien - und zwar Sommers wie Winters - dann hörte man alsbald Fragen wie: „Schlucksl krank?“ oder „Wo ist denn der freche Hund, pennt er sich wieder seinen Rausch aus?“ und ähnliche schmeichlerische Gedanken. Einmal - so hörte man später - war er einige Wochen nicht dagewesen. Er fehlte einfach und als er endlich wieder auf der Straße stand, antwortete er auf diesbezügliche Fragen immer nur mit seinem unvollkommenen Gebiß grinsend: Er habe endlich einmal Urlaub gemacht.

Erst viel später wurden Gerüchte laut, in denen von „Krebsbehandlung“ die Rede war. Bewiesen wurden diese Gerüchte indessen nie.

Wie alt Schlucksl war, wußte vermutlich niemand. Eines Tages - es war ein etwas diesiger und nebelfeuchter Novembertag - stand er an bekanntem Platze, seine Zigarette rauchend und sein Bier trinkend. Drei Menschen, die dabei gewesen waren berichteten nachher übereinstimmend, daß Schlucksl wieder einmal einem Fahrer in einer Nobelkarosse hintergescholten habe, da streckte er plötzlich den Arm mit der Bierflasche weit von sich, daß das Gebräu schäumend auf die Straße spritzte, krampfte sich zusammen, ließ seine Zigarette aus dem Mund fallen und war tot, noch bevor er fallend den Erdboden erreicht hatte. Seine Bierflasche rollte klackernd den Rinnstein entlang, bis ihr letzter Inhalt sich in den Gully ergoß. Der Zigarettenstummel verglomm auf der Gehwegkante. Der herbeigerufene Dorfarzt stellte, wie erwartet, seinen Tod fest und veranlaßte alles weitere. Die schmuddeligen Überreste wurden von der Feuerwehr in einem Sarg geladen und davongefahren und nachdem Schlucksl solchermaßen ein letztes Mal für Gesprächsstoff gesorgt hatte - „War ja zu erwarten gewesen - starb wie er lebte - verreckt wie ein Vieh - gottloser Heide - alter Saufaus - kein Mädchen konnte er in Frieden lassen....“ kehrte langsam Ruhe um ihn ein.

Viele Jahre lang hatte Schlucksl das Dorf mit seiner Gegenwart beehrt. Er hatte den Ladenbesitzer geärgert, weil er das Bier, welches Schlucksl bei ihm kaufte, auch gleich im Laden trank und es deswegen mehrfach Ärger mit der Behörde gab. Denn schließlich hatte der Ladenbesitzer keine Schanklizenz. Doch Schlucksl schien sich einen Spaß daraus zu machen, solche Vorfälle immer wieder zu provozieren. Selbst als der Ladenbesitzer Schlucksl Hausverbot erteilte, kümmerte dieses das nicht. Er holte sich sein Bier, entrichtete den Preis und trank. Erst, als der Ladenbesitzer seine Lektion gelernt hatte und Schlucksl mit seiner Flasche Bier unbehelligt stehen ließ, verlor dieser bald den Spaß an dem skurrilen Spiel.

Mit Schlucksl verschwand eine Art von Mensch aus unserem Dorf, welchem vor langer Zeit vielleicht noch der Begriff des „Faktotum“ zugewiesen worden wäre. Doch er starb und seine Existenz endete einfach als „der Dorfdepp“. Meistens betrunken und jederzeit geeignet, der Jugend als schlechtes Beispiel dienen zu können.