Das Mädchen aus der Babyklappe

“Mama stell dir vor, Jennifer ist schwanger!“ Mit diesen Worten stürmt meine Tochter zu Tür herein und ringt nach Luft. Es ist 19 Uhr, meine Tochter kommt vom Unihockeytraining zurück, das sie jeden Mittwochnachmittag zusammen mit ihrer Freundin Jennifer besucht. Ich bin in der Küche und bereitete das Abendessen vor. „Sie hat es mir auf dem Heimweg erzählt. Sie ist ganz aufgewühlt, denn ihr Freund will nichts von diesem Kind wissen. Sie selber beginnt nun auch darüber nachzudenken, das Kind abzutreiben“. Die Worte von Jennifer, sie geben mir einen Stich ins Herz, so dass ich mich am Küchentisch halten muss. Wie in einem Film sehe ich einige Abschnitte von meinem Leben vor mir. Es war nur einen kurzen Moment, doch dieser verursacht in mir einen Schmerz. „Was ist mit dir Mama? Du siehst so bleich und traurig aus“. Mit diesen Worten versetzt mich meine Tochter wieder in die Realität zurück. „Nein es ist schon gut. Das was du gesagt hast, hat mich an etwas erinnert“, entgegne ich ihr mit einer etwas zittrigen Stimme. Beim Abendessen sehe ich es meiner Tochter an, wie die Neuigkeit von Jennifer sie ziemlich hernimmt. „Das Schicksal von Jennifer geht dir nahe Simone, nicht wahr?“ „Ja, wie kann Severin nur sagen, ich will das Kind nicht, lass es abtreiben, wir sind noch zu jung dazu. Ich möchte diese Verantwortung noch nicht tragen. - Du warst doch auch sehr jung und dazu noch alleine, als ich auf die Welt kam und hast dich für mich entschieden“, erwidert mir Jennifer mit nachdenklicher Stimme. Ich bin innerlich aufgewühlt, doch dann gebe ich mir einen Ruck. „Ich möchte dir eine Geschichte von meiner ehemaligen Freundin Laura erzählen, die mir ganz nahe stand“, beginne ich.

Laura war im Alter von Jennifer und in der gleichen Situation wie sie, das heisst, sie war auch schwanger. Lange bemerkte sie ihren Zustand nicht. Es war ihr vielfach schlecht und sie erbrach sich häufig. Sie wäre jedoch niemals auf die Idee gekommen, dass sie schwanger sei. Bei ihrer Mutter blieb diese Veränderung natürlich nicht unbemerkt. Sie überredete ihre Tochter zu einem Termin bei einer Frauenärztin. Es war für Laura ein Schock, als diese ihr erklärte, dass sie schwanger, es jedoch für eine Abtreibung zu spät sei. Sie fühlte sich zurückversetzt an jenen Abend als man von ihrer Tante Elvira gesprochen hatte und sie ihre Mutter gefragt hatte, warum diese nie zu Besuch käme. „Weisst du in unserer Familie toleriert man keine Mutter mit einem unehelichen Kind“, war die knappe ihrer Mutter gewesen. Laura war damals 14 Jahren gewesen. „Sie müssen mit ihrer Mutter sprechen. Sie wird ihnen sicher helfen und sie werden eine gute Lösung finden“ riss sie die Frauenärztin aus ihrer Erinnerung heraus. Doch wie konnte sie dies ihrer Mutter sagen. „Niemals, niemals“, waren ihre Gedanken. Daheim empfing sie ihre Mutter mit den Worten: „Was hat die Frauenärztin gesagt?“ „Es ist nichts gravierendes, nur der Blutdruck ist zu niedrig und das Erbrechen kommt vom Druck in der Schule“, stammelte sie und schaute dabei zu Boden. An diesem Tag brach eine Welt zusammen für Laura. Sie fiel in ein Loch das keinen Boden hatte. Eben hatte das Leben so schön begonnen, die Zeit mit ihrem Freund, der geplante Studienaufenthalt in Berlin. Nun plötzlich bestand das Leben nur noch aus Angst und Problemen und niemanden dem sie sich anvertrauen konnte. Im Studienaufenthalt sah sie nun eine Möglichkeit, ihre Schwangerschaft weiterhin vor ihrer Familie zu verstecken. In Berlin ging sie immer weniger zur Uni, je mehr sich die Schwangerschaft bemerkbar machte und blieb vielfach einfach in ihrem Zimmer. Einzig einer Kollegin aus der Uni vertraute sie sich an. Dank dem Geld, das ihr die Eltern pünktlich überwiesen, hatte sie keine finanziellen Sorgen. Eines Tages las sie in der Zeitung einen Artikel über eine Babyklappe, die neu in Berlin eröffnet wurde. Das war für sie wie ein Lichtschimmer am Horizont. Das wäre eine Lösung, dachte sie. So wäre ich mein Problem los. Für Laura war das ungeborene Kind nur ein Problem, das sie in eine fast ausweglose Situation gebracht hatte. An einem Sonntagnachmittag vertraute sie sich ihrer Kollegin an. Sie erzählte ihr von ihrem Plan mit der Babyklappe. Gemeinsam kauften sie sich ein Buch mit dem Titel „Wie gebäre ich zu Hause“ und bereiteten sich so darauf vor. Die Geburt verliefe einfach und ohne Komplikationen, trotz ihrer grossen Unerfahrenheit. Nach der Geburt fiel Laura in ein emotionelles Wechselbad. Sie bemerkte, dass ihr sogenanntes Problem ein Kind war, ein Kind das lebte, ein Kind das sie brauchte, das abhängig von ihr war, doch sie fühlte sich mit der ganzen Situation total überfordert. So entschloss sie sich zusammen mit ihrer Freundin, an einem Abend, ihr Kind in die Babyklappe zu legen. Es war ein langer Weg dorthin und sie mussten mehrere Male mit dem Bus umsteigen, bis sie an der Klink St. Michael ankamen. Die Nacht war dunkel und es war kalt. Es war nicht einfach die Klappe zu finden. Sie umrundeten zweimal das ganze Klinikgebäude. Auf Grund der Kälte fing nun auch noch die Kleine an zu schreien. Es gelang ihr nicht, sie zu beruhigen. Endlich, da war die Babyklappe. Sie legte die Kleine in die Klappe und eilte mit ihrer Freundin davon. Das Geschrei war einfach zu viel für sie. Am nächsten Morgen empfand sie eine nie dagewesene Leere. Als es an der Türe klingelte, hatte sie keine Kraft um aufzustehen. Am nächsten Tag klingelte es wieder an der Türe. Sie schaute durch den Türspion und erblickte eine Frau im Alter ihrer Mutter. Dies wiederholte sich mehrere Tag, so dass sie sich sagte: „Ich muss dieser Frau öffnen, sonst lässt sie mir keine Ruhe“. Also öffnete Laura ihr die Türe. Die Frau stellte sich Laura vor und fragte sie, ob sie einen Moment mit ihr sprechen dürfe. Laura bat die Frau hereinzukommen. Als sie sich gesetzt hatten begann die Frau: „Sie werden sich sicher gefragt haben, wer ist diese Frau, die jeden Tag an meiner Türe klingelt und mir keine Ruhe lässt“. Laura erwiderte darauf: „Ja das ist wahr. Wissen sie, es geht mir in diesem Moment überhaupt nicht gut, darum habe ich ihnen die Tage davor die Türe nicht geöffnet. Doch in mir ist eine Ahnung hochgekommen, dass sie etwas von meinem Zustand wissen und ich brauche nun einfach jemanden mit dem ich reden kann, denn einzig meine Freundin weiss, wie es mir zurzeit geht“. „Wissen sie ich bin Hebamme in der St. Michaels-Klinik. An jenem Abend hatte ich Feierabend und soeben die Klinik verlassen, als ich sie mit der Kleinen, die schrie und ihre Freundin sah. Ich sah, wie sie die Kleine in die Babyklappe gelegt haben. Da ich selber als Waisenkind aufgewachsen bin, spürte ich in meinem Herzen, dass hier Hilfe notwendig ist. Darum bin ich ihnen bis zu ihrer Wohnung gefolgt. Nun würde ich Ihnen gerne helfen, wenn sie meine Hilfe annehmen möchten“.

Ich erzähle meiner Tochter weiter, wie diese Frau Laura half, wie sich Laura bei der Klinik meldete und ihre Tochter zurückbekam. Doch die Tatsache, dass sie eine uneheliche Tochter hatte fand keine Akzeptanz in der ihrer eigenen Familie, so dass Laura jeglichen Kontakt mit dieser unterbrach. So kam es, dass diese Frau Laura zu sich nahm. Sie wurde für Laura zu einer zweiten Mutter. Laura konnte ihr Studium an der Uni abschliessen. Dank ihrer Tochter entdeckte sie wie wunderbar und wertvoll das Leben eines jeden einzelnen ist, aber auch seine Fragilität und Abhängigkeit. Durch ihre eigene Geschichte wurde ihr bewusst, dass es immer wieder Situationen gibt, wo der Mensch an seine Grenzen kommt und wo er auf Hilfe von anderen angewiesen ist. Für sie war klar geworden die Menschen haben eine Verantwortung für das Wohl aller Menschen und dieses Verantwortungsbewusstsein nur aus der Liebe zum Nächsten kommen kann.
Ja das ist die Geschichte von Laura“, mit diesen Worten beende ich meine Geschichte. Nach einer kleinen Stille sagt meine Tochter: „Dies ist eine wunderbare Geschichte. Weiss eigentlich die Tochter von deiner Freundin, wie wertvoll sie in den Augen ihrer Mutter ist?“ Ich schaue meine Tochter an und sage: „Ja ich denke sie weiss es.“ „Mama kannst du nicht meiner Freundin helfen, wie das diese Frau bei Laura gemacht hat. Erzähl ihr doch einfach diese Geschichte“, fleht mich meine Tochter an.

So ist zwei Tage später Jennifer bei uns zum Abendessen. Nach dem Essen wechseln wir in die Wohnstube, wo wir es bei einer Tasse Tee gemütlich machen. Es ist Simone die beginnt. „Jennifer, ich habe vorgestern meiner Mutter alles erzählt, dass du schwanger bist und auch das Severin nichts von diesem Kind wissen will. Darauf hat mir meine Mutter eine wunderbare Geschichte erzählt, die wahr ist und die sie dir auch erzählen möchte“. So beginne ich von neuem die Geschichte von Laura zu erzählen. Am Ende ist es wie das letzte Mal, Stille. Nun beginne ich von neuem: „Jennifer, nach dieser Geschichte möchte ich dir folgendes mitgeben: Niemand kann dir diese Entscheidung abnehmen. Es bist ganz allein du der sich entscheidet. Wie auch immer du dich entscheidest, wir wollen dir helfen, weil du uns wertvoll bist und ich weiss, wie Hilfe in dieser Situation wichtig ist. Doch zuerst höre ganz tief in dir auf die Stimme deines Herzens. Auch wenn die äusseren Umstände schwierig sind, vielleicht sogar ausweglos erscheinen, dein Herz, es kennt die Wahrheit. Nur wenn du in dieser Wahrheit bleibst und dich nicht selber belügst, kannst du glücklich sein.