Und immer wieder die Bremsen...
An einem Wochenende hatten mein Cousin und ich uns vorgenommen, nach Vancouver zu fahren, um dort dessen Schwester zu besuchen. Sie absolvierte in einem dortigen Krankenhaus ein Praktikum im Rahmen ihrer Ausbildung zur Krankenschwester.
Im Laufer mehrerer Fahrten hatten Thomas und ich festgestellt, daß der gute alte Valiant Bremsflüssigkeit verlor. Nicht eben viel, jedoch genügend, um unsere Sorge nicht einschlafen zu lassen. Wir konnten nicht feststellen, an welcher Stelle sich das Leck befand. Also hatten wir künftig immer eine große Dose "breakfluid" - Bremsflüssigkeit - dabei, um im Bedarfsfalle nachfüllen zu können, und zwar bevor Luft in das Bremssystem gelangen konnte. Auf die Fahrt nach Vancouver nahmen wir zwei besonders große Dosen mit.
Es war schon ziemlich später Nachmittag, als wir aufbrachen. Es regnete - nein, es goss wie aus Eimern - und die Fahrerei gestaltete sich anstrengend und mühsam. Das Licht des Valiant war nicht besonders hell und wir hatten ganz besonders achtzugeben. Thomas fuhr den ersten Abschnitt und lange Zeit unterhielten wir uns über Gott und die Welt. Schließlich gelangten wir an eine längere Gefällestrecke. Ich machte meinen Cousin aufmerksam: "Wir sollten dringend nach der Bremsflüssigkeit sehen. Es würde mich stören, wenn Du beim Bremsen plötzlich ins Leere trätest." "So?", entgegnete Thomas ungerührt, "weißt Du eigentlich schon, was auf Deinem Grabstein stünde?" "Keine Ahnung", erwiderte ich, "bisher hatte ich nur wenige Gründe, mir darüber Gedanken zu machen Aber jetzt..."
Er fuhr weiter. Dreimal mußte ich ihn drängen, bevor er schließlich nachgab und auf einem kleinen Rastplatz anhielt. Als wir den Deckel öffneten um nach der Bremsflüssigkeit zu sehen, war der Behälter leer! Sogar mein unbekümmerter Herr Cousin wurde ein wenig verlegen.
Ab jetzt kontrollierten wir regelmäßig alle zwei Stunden den Flüssigkeitsstand.
Es war Nacht geworden. In den Bergen wurde das Fahren besonders heikel, der Regen draschte mit solcher Vehemenz hernieder, daß die Sichtweite auf unter dreißig Meter sank. Die Straßen waren recht eng und dennoch donnerte uns so etwa jede halbe Stunde ein Log Truck entgegen, mit Höchstgeschwindigkeit wie es aussah, und scheuchte uns beinahe in den Straßengraben. Irgendwann waren wir beide so müde, daß die Weiterfahrt einem Selbstmordversuch gleichgekommen wäre. So steuerten wir den nächsten Campinplatz an. Während wir dort das Zelt aufstellten, ließ der Regen urplötzlich nach, und wir konnten einigermaßen trocken in unsere Schaffutterale schlüpfen.
Ein wenig zerknittert, sonst jedoch guter Dinge, nahmen wir am nächsten Morgen nach einem knappen Frühstück den Rest der Strecke nach Vancouver unter die Räder.
In der Stadt verbrachten wir ein angenehmes Wochenende und füllten die Zeit mit allerhand Besichtigungstouren und anderen touristischen Unternehmungen. Vancouver ist zwar eine zwar große, mir jedoch dennoch angenehme Stadt, die ich mochte.
Den Rückweg am Sonntagabend traten wir wiederum bei heftigem Regen an. Deshalb entschlossen wir, von Vancouver aus in die Staaten zu fahren, und dort eine Weile parallel zur canadischen Grenze zu fahren.
Das Wetter wurde besser und im Laufe des fortschreitenden Tages sogar schwül und heiß. Nach einer guten Karte bewegten wir uns vornehmlich auf Nebenstraßen. Das waren zwar nur geschotterte Straßen, doch dafür gab es dort wirklich keinen Verkehr. So konnten wir den alten Valiant "fliegen" lassen, daß die Schottersteine unters Bodenblech knallten.
Am späten Nachmittag querten wir bei Grand Forks wieder die Grenze. Als wir am Südende des Christina Lake in ein kleines Städtchen hineinfuhren, ging es ziemlich steil bergab. Gleich beim Ortseingang regelte eine Ampel den um diese Zeit glücklicherweise nicht besonders starken Verkehr. Diese Ampel war rot, und Thomas bremste also allmählich ab, um rechtzeitig den alten Valiant zum Stehen zu bringen. Als er wenige Meter vor der noch immer roten Ampel auf die Bremse trat, um den Wagen anzuhalten, hielt dieser jedoch nicht etwa wie beabsichtigt an, sondern wir rauschten beinahe ungebremst über die beampelte Kreuzung, um auf der anderen Seite schließlich mit klopfendem Herzen und ein wenig außer Atem stehen zu bleiben. Eine stinkende Wolke umhüllte unseren Valiant.
Wir waren beide etwas blaß um die Nase, als wir ausstiegen. Unsere Untersuchung ergab, daß am linken Hinterrad die Bremsleitung geplatzt war - die einzige Bremsleitung, die wir bei der Reparatur nicht ausgetauscht hatten. Einige Steine der nachmittäglichen Gravel Roads mochten das ihre zu dem Bruch beigetragen haben.
Wir beratschlagten uns - was war zu tun? Quasi ohne Bremsen zu fahren in dieser bergigen Gegend, das war ein beinahe kriminelles Unterfangen. Doch wir wollten nach Hause! Mit der lädierten Bremse würden wir jedoch nicht schnell genug fahren können, um die letzte Fähre über den Kootenay Lake noch zu erreichen. Den Kootenay Pass auf dem Highway No. 3 ohne richtig funktionierende Bremsen zu nehmen wäre andererseits noch krimineller als kriminell gewesen.
Nachdem wir eine Weile ohne weitere Ergebnisse hin und her überlegt hatten, sagte Thomas: "Ok. fahren wir den Pass. Es ist mein Wagen - ich fahre!"
Dagegen war grundsätzlich nichts einzuwenden. Doch nach kaum einer halben Stunde übermannte Thomas die Müdigkeit. "Wenn ich nur wüßte, welche von den acht Spuren ich fahren soll, die ich sehe", jammerte er. "Halt' an, ich fahr' weiter", entgegnete ich. Nach einem kurzen Halt übernahm ich das Steuer. Wir waren kaum ein paar Minuten gefahren, als Thomas eingeschlafen war.
So fuhr ich - und es war eine der anstrengendsten Autofahrten, die ich jemals in meinem Leben gemacht hatte. Den Kootenay Paß aufwärts gab es naturgemäß kaum Probleme, da brauchte ich die Bremsen ja nicht. Bei der gemäßigten Berganfahrt hatte ich genügend Zeit, immer wieder einen Blick an den besternten Himmel zu werfen. Selbst durch das nicht sonderlich reinliche Autofenster konnte ich erkennen, wie herrlich klar und brilliant die Sterne funkelten. Doch als es dann wieder abwärts ging, begannen die Probleme. Die Strasse führte knappe 1800 m hoch und der Valiant war nicht gerade ein Leichtgewicht - an die zwei Tonnen mochte er wohl wiegen - und kam infolgedessen immer wieder schnell in Schuß. Die alten Trommelbremsen hatten mit dem Vehikel schon im Normalfall ihre liebe Mühe. Die Automatik hatte nur drei Fahrstufen - meistens fuhr ich in der niedrigsten, während ich immer wieder versuchte, die Kurven einzuschätzen und mit welcher Geschwindigkeit der Valiant sie ohne auszubrechen nehmen konnte.
Mehrere Male geriet ich auf die Gegenfahrbahn, wenn ich mich verschätzt hatte. Einmal - es war kurz vor Mitternacht - hielt ich an, um Bremsflüssigkeit nachzufüllen, welche natürlich durch die geplatzte Bremsleitung noch schneller davonrann, als bisher. Der gute Thomas indessen verschlief diesen Halt. Dann ging es weiter. Inzwischen hatte sich auch meiner eine "milde Müdigkeit" bemächtigt. Doch trotz aller widrigen Umstände überquerten wir den Paß ohne Unfall. Nur, als ich in der Nähe von Creston auf die Straße am Kootenay Lake nach Gray Creek einbog, wachte Thomas einmal kurz auf. Gegen halb zwei Uhr nachts erreichten wir die Farm seiner Eltern - hundemüde, doch wohlbehalten.
Einundzwanzig Jahre später bin ich den Kootenay erneut gefahren, diesmal in umgekehrter Richtung, also von Creston aus in Richtung Kelowna. Diesmal allerdings mit einem wohlgewarteten und bärenstarken Leihwagen im Beisein meiner Frau und unserer beiden jüngeren Töchter. Das frischte meine Erinnerung an die damalige Nachtfahrt wieder auf. Mit leichtem Schauder dachte ich an jene Nacht zurück, als ich die steilen Hänge wiedersah und mich erinnern konnte, welche heiklen Kurven um die riesigen Felsbrocken herumführten, und um die teilweise abgrundtiefen Bachbetten. Sicher, es war wohl eine ordentliche Portion jugendlicher Leichtsinn dabei, als wir uns damals entschlossen, ohne wirksame funktionierende Bremsen den Summit Paß zu fahren. Andererseits spürte ich auf dieser Fahrt sehr deutlich, daß unser großer Freund und Bruder mit auf der Sitzbank saß. Und zwar trotz unseres Leichtsinns - oder gerade deswegen?.
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