Begräbnis der Freiheit
Als ich aufwachte, begann es, hell zu werden. Es mag so gegen vier Uhr gewesen sein. Die ersten Vögel begannen ihr Morgenkonzert noch etwas zaghaft, die Sonne schob sich langsam und stetig höher. Der heutige Tag würde wieder heiß werden, wie schon die vergangenen Tage. Die vergangenen Wochen.
Dieser Sommer war bisher einer der heißesten, die ich erlebt hatte. Schon gegen neun Uhr stach die Sonne mit einer solchen Intensität vom völlig wolkenlosen Himmel herab, daß man sich überlegte, ob man da draußen etwas zu tun hatte, oder ob man seine Zeit besser zwischen schützenden Mauern verbringen sollte.
Jetzt aber lag ich hier in unserem Schlafzimmer - noch wehte leis ein sacht kühlender Luftzug durch den Raum, eine willkommene Erfrischung in diesen sonst schwülen Nächten. Wieder zu früh aufgewacht. Ich schlief in den letzten Wochen nicht gut, die Hitze und die meistens viel zu warmen Nächte...
Ich war unruhig. Ein Blick auf mein noch im Morgendämmer liegendes Bett verriet mir, daß ich auch recht unruhig geschlafen haben mußte. Neben mir meine Geliebte - sie atmete ruhig und regelmäßig und lag entspannt.
Meine Unruhe wollte nicht weichen. Erinnerungsfetzen eines Traumes taumelten mir durch den Sinn. Ein Friedhof - Grabmale - Begräbnis - dunkle Gestalten -.
Doch ich vermochte die Fetzen nicht zusammenzusetzen zu einem erkennbaren Bild. Zu fern war die geträumte Nachtmär, als daß ich ihrer noch hätte habhaft werden können.
Nur die Unruhe blieb. Die Unruhe blieb.
Die Bilder des vergehenden Traums lösten sich vollends auf und zurück blieb die unbestimmte Erinnerung an etwas Beunruhigendes, Furchteinflößendes.
Ich erhob mich leise aus meinem Bett, um meine Frau nicht zu wecken. Ich würde das Frühstück vorbereiten und so wenigstens dazu beitragen, daß dieser Morgen etwas entspannter und ruhiger verlaufen könnte, als ein gewöhnlicher Morgen.
Auf der Fahrt zur Arbeit schaltete ich das Radio ein und das Gedudel irgendeiner Morgensendung vertrieb allmählich auch die letzte Unruhe der vergangenen Stunden. Ich dachte an die Aufgaben, die heute vor mir liegen würden, konzentrierte mich auf den Verkehr und hatte diesen Traum allmählich endgültig vergessen.
Das heißt - nicht ganz endgültig. Während der einen oder anderen Arbeitspause flammte das unbestimmte Gefühl kurz einmal auf, wurde jedoch von anderen Gedanken oder Gesprächen rasch wieder erstickt.
Im Verlauf der folgenden Tage und Wochen dachte ich kaum noch an jenen Traum, bis ich eines Samstagmorgens verschwitzt und mit heftig pochendem Herzen aufwachte. Sofort erinnerte ich mich wieder: Es war der gleiche Traum wie vor einigen Wochen, der mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Die Erinnerungen waren klarer als beim ersten mal. Ich bildete mir ein, einen Friedhof gesehen zu haben, der mir unbestimmt vertraut schien. Früher, vor etlichen Jahren schon als ich noch Junggeselle war, lebte ich weiter westlich. Dort gab es einen alten und verlassenen Waldfriedhof, der in meiner Erinnerung jenem glich, der sich in meinem Traum gezeigt hatte. Damals schon war dieser Friedhof merkwürdig vernachlässigt gewesen. Grabmale waren überwuchert, mit Moosen und Flechten überdeckt und kaum zu lesen. Die Pflanzen hatten sich in ungebremsten Wachstum ausgebreitet. Der schmiedeeiserne Zaun um den Gottesacker war rostig und teilweise so hinfällig gewesen, daß er schon damals seine eigentliche Funktion nicht mehr ausfüllen konnte.
Obschon ich mich jetzt recht deutlich an jenen Friedhof erinnerte, war mir durchaus nicht klar, wieso ich jetzt, Jahre nachdem ich aus jener Gegend fortgegangen war, wieder mit solcher Intensität an diesen Friedhof denken mußte - und wie er Eingang in meine Traumwelt gefunden hatte. Jetzt fiel mir auch der Name wieder ein, mit dem dieser Friedhof in seiner näheren Umgebung bezeichnet wurde: „Judenfriedhof“. Richtig, irgendjemand hatte mir einmal erzählt, daß das in der Tat ein alter jüdischer Friedhof war.
Langsam regte sich meine Frau und wurde auch wach.
Nachdem wir ausgiebig gefrühstückt hatten, berichtete ich meiner Frau von meinen beiden Träumen und jenem Friedhof. „Spricht etwas dagegen, wenn wir uns diesen Friedhof einmal ansehen? Das Wetter ist gut und es ist nicht weit. Mich interessiert, was in den Jahren daraus geworden ist.“
Sie war einverstanden und so machten wir uns auf die etwa einstündige Fahrt. Es war nicht mehr so glühend heiß, so ließ die Fahrt sich angenehm an. Am Zielort angelangt stellten wir den Wagen auf einem Seitenweg im Wald ab. Ich wußte nicht mehr genau, wo dieser Friedhof zu suchen wäre, viel hatte sich in der näheren Umgegend verändert. Doch nach knapp vierzig Minuten Fußweg mit einigen falschen Anläufen gelangten wir an den Rand des gesuchten Friedhofes.
Er war noch verwilderter, als ich ihn in Erinnerung hatte Von dem damals zumindest noch erkennbaren Zaun zeugten nur noch einige verrostete, schiefstehende und teilweise verbogene Stangen. Einige lagen auf dem Boden und streckten ihre Spitzen gefährlich nach oben. Wir suchten, was einmal der Eingang dieses kleinen Friedhofes gewesen hätte sein können und betraten den Gottesacker.
Der Bereich mochte vielleicht 120 Meter breit und in etwa ebenso lang sein. Die teils verwitterten, teils noch recht gut erhaltenen Grabmale waren genau in Reihen und Kolonnen aufgestellt, Spuren von Vandalismus, wie man sie zuweilen sehen kann, entdeckten wir nicht. Doch auch sonst schien dieser Friedhof seit vielen Jahren unberührt. Warum er mir zweimal im Traum vorgekommen war, konnte ich mir nicht erklären. Allerdings erkannte ich ihn so wieder, wie er jetzt hier vor uns lag. Nicht, wie ich ihn vor etlichen Jahren zuletzt gesehen hatte - als der Zaun noch weitgehend intakt, wenn auch schief und krumm gewesen war. Das machte mir die beiden Träume noch rätselvoller.
Auf dem Weg nach Hause besprach ich mich darüber mit meiner Frau. Da auch sie keine Erklärung finden konnte, beschloß ich abzuwarten, was weiter geschehen würde.
Wieder gingen einige Tage und Wochen ins Land, während denen die Erinnerung an besagten Traum wieder verblaßten.
Eines Nachts - ich hatte einen anstrengenden Arbeitstag hinter mir - geschah es wieder. Schweißgebadet erwachte ich, wie von einem Schuß geweckt. Kerzengerade richtete ich mich in meinem Bett auf. Mir zitterten die Hände. Viele Bilder waren mir noch deutlich im Gedächtnis. Eben jener bewußte Judenfriedhof - auf ihm und darum herum eine Anzahl Menschen - schwarz oder doch dunkel gekleidet. Schwere, tragische Musik mit tiefen Baßtönen. Dort erhob sich ein Arm, in der Faust etwas, das ich nicht erkennen könnte. Der Arm fuhr herab - ein scharfer Knall - vorbei. Das Bild verschwand.
Mich schauderte. Wieder und wieder vergegenwärtigte ich mir die Bilder bis ich mir sicher sein konnte, sie nicht mehr zu vergessen.
Ich berichtete meiner Frau, sie saß ratlos. Was hätte sie tun oder sagen sollen.
Nun wurde es ernst für mich. Die Träume kamen immer häufiger, mal erschrak ich heftig, ein andermal etwas weniger, doch ich wurde sie nicht mehr los. Sie wirkten in meinen Alltag hinein, auf meine Arbeit, auf unser gemeinsames Leben. Mehrere Nächte hintereinander, ein, zwei Nächte Pause - dann wieder von neuem.
Allmählich begann sich in meinem Kopf ein Gedanke zu formen. „Du mußt eine Nacht auf diesen Judenfriedhof zubringen und sehen, ob sich da etwas tut...“
Zuerst wies ich den Gedanken von mir. Doch er kehrte wieder. Mit der Beharrlichkeit eines unerschütterlich treuen Tieres, welches sich in seiner Treue auch von den heftigsten Ausbrüchen seines Auserkorenen nicht fortweisen läßt, stellte sich dieser Gedanke immer wieder ein.
Irgendwann sprach ich mit meiner Frau darüber.
„Und du glaubst, dann kommst du dahinter, was es mit deinen Träumen auf sich hat?“ „Ich kann es nicht sagen, aber ich hoffe es. Wenn das nicht hilft - “, ich ließ den Satz unvollendet. Wir wußten beide, daß ich spätestens dann zu einem Facharzt würde gehen müssen. Wer gesteht sich schon gerne ein, daß er verrückt zu werden beginnt - oder es gar schon ist?
Ich hatte den - mir selbst logisch erscheinenden - Gedanken, daß meine Träume in irgendeinem direkten Zusammenhang mit Ereignissen um oder auf diesem Friedhof stehen mußten.
Ich wartete den nächsten Freitagabend ab. Nervös, und als ob ich eine lange Reise planen würde, wickelte ich mir ein paar belegte Scheiben Brot ein, bereitete eine Thermosflasche starken Kaffees zu und nahm noch zwei oder drei Flaschen Tafelwasser mit. Die unerträglich heißen Tage waren einem milden Spätsommer gewichen mit goldenen Tagen und noch milden Nächten. So nahm ich nur eine leichte Jacke mit mir.
Lesezeichen