Begräbnis der Freiheit 2 Teil
Etwa eine Stunde vor Anbruch der Dunkelheit machte ich mich auf den Weg. Unterwegs konnte ich beinahe von Minute zu Minute spüren, wie meine innere Spannung wuchs. Fast wäre ich über bei rot über eine Kreuzung gefahren.
Als die Sonne sich schon senkte, stellte ich den Wagen auf dem kleinen Seitenweg ab, auf dem er schon stand, als ich vor einiger Zeit mit meiner Frau zusammen hier gewesen war. Nun kannte ich den Weg wieder recht genau, nachdem meine Frau und ich den Friedhof gesucht und dann gefunden hatten. Ich nahm meinen Rucksack, schwang ihn mir über die Schulter und ging los. Auf direktem Wege würde ich kaum zwanzig Minuten zum Friedhof benötigen und dort noch Zeit haben, mir ein verborgenes Plätzchen zu suchen.
Als ich dort angekommen war, suchte ich im verbleibendem Licht nach etwa vorhandenen Spuren. Ich fand keine.
Ein grasbewachsener Platz hinter einem hohen Grabmal lud mich zum Bleiben ein. Dort war der Boden etwas erhöht und bot einen guten Überblick über den Friedhof mit seinen alten und ehrwürdigen Grabmalen. Als ich dort anlangte und mich umsah, fuhr ich erschrocken zusammen. Das war genau die Perspektive, die sich mir in meinen Träumen darstellte - haargenau. Ich mußte eine aufsteigende Panik niederkämpfen, als ich mich eingerichtet hatte. Häßliche und gemeine Angst machte mir das Atmen schwer. Ich bemühte mich ruhig zu bleiben, doch es gelang mir nur unvollkommen.
Während ich hier saß und wartete - inzwischen hatte die Nacht die Herrschaft übernommen - gingen mir Gedanken mit den unterschiedlichsten Deutungen der erlebten Träume durch den Kopf. Doch alle mußte ich verwerfen, denn keine einziger der Gedankenfäden ließ sich zu einem Ende spinnen.
Mitternacht war wohl schon vergangen, als die Spannung dann doch wieder von mir abgefallen war. Ich mochte leicht eingedöst sein, als ein kurzes, scharf knackendes Geräusch mich zusammenzucken ließ. Ich blickte auf. Nichts zu sehen. Oder ...
Ich richtete mich aus dem Sitzen auf, um einen besseren Überblick zu erhalten.
Doch! Dort drüben, da, wo sich ursprünglich der Durchgang durch den Eisenzaun befunden hatte, schien sich etwas zu bewegen. Was ich zunächst nicht bemerkte, was mich bald darauf jedoch beunruhigte war, daß das Dunkel der Nacht einer fahlen Helligkeit zu weichen begann, ähnlich dem Licht des Vollmondes. Nur, daß dieser bereits längst wieder hinter dem Horizont verschwunden war.
Inzwischen konnte ich sich bewegende Gestalten erkennen. Menschen kamen da den kaum kenntlichen Weg heraufgegangen, doch sie schienen genau zu wissen, wohin sie wollten. In ihrer Mitte trugen sie ein mit dunklen Tüchern verhängtes, sänftenartiges Gestell, welches nicht schwer zu sein schien. Zwei Männer genügten, diese Sänfte zu tragen. Jetzt konnte ich etwa dreißig, oder vierzig Personen unterscheiden, doch es war unbegreiflich: Zwar konnte ich ihre Anzahl schätzen, zählen indessen konnte ich sie nicht. Wann immer ich ein Gesicht fixierte, wurden dutzende darumherum sichtbar. Mir wurde beinahe schwindlig. Es hätten hunderte oder Zigtausende Menschen sein können - es war eigenartig - unbegreiflich und unwirklich.
Jetzt hielten sie an, keine zwanzig Meter von mir entfernt. Die Sänftenträger stellten ihr Gestell ab. Einer schlug den Vorhang zurück. Eine herrische Bewegung des Armes hieß einen ... ein Kind! ... das war ja ein Kind, das aus der Sänfte stieg.
Fragen über Fragen steilten sich in meinem Innern auf. Gebannt beobachtete ich die unwirkliche Szene.
Das Kind - ob Junge oder Mädchen konnte ich nicht erkennen - stieg aus. Ein schlankes Kind, vielleicht um die zwölf Jahre alt, stand vor den Menschen dort mit hängenden Schultern und gesenktem Gesicht.
„Das ist ja ...“, entfuhr es mir, „Das ist ja - die Freiheit. Da steht die Freiheit. Um alles in der Welt - was geht hier vor?“ Ich rief diese Frage mehr, als daß ich sie flüsterte - doch es schien mich niemand zu hören.
Wenn ich diese Zeilen heute lese, wie ich sie schon viele Male zuvor las, wird mir immer wieder bewußt, wie verrückt, wie verrückt und vollkommen absurd diese Vermutung war - und doch wußte ich in jenen Stunden unverbrüchlich sicher, daß das da, dieses Kind da neben der Sänfte, die Freiheit war.
Dennoch begriff ich nichts von dem, was sich da vor meinen Augen ereignete. Als ich erneut versuchte, einzelne Personen zu fixieren, bemerkte ich, daß viele Gesichter dabei waren, die ich schon irgendwo gesehen hatte. Im Fernsehen, in unserer Stadt, in Kinofilmen, in Zeitschriften. Ja, ich kannte einige sogar bei ihrem Namen. Doch immer, wenn ich ein Gesicht zu fixieren versuchte, ging es mir verloren und es schob sich ein anderes in meinen Blick.
Jetzt begann eine Musik zu erklingen - genau, wie ich sie in vielen der Träume gehört hatte. Woher sie kam, konnte ich nicht erkennen. Düster, in dunklen Akkorden, sakral getragen und doch irgendwie nicht von hier, nicht aus dem Diesseits.
Eine Armbewegung - die Musik verstummte augenblicklich. Wieder versuchte ich, Gesichter zu fixieren, doch es erging mir, wie schon zuvor. Das vollkommene Schweigen ließ die Szene noch unheimlicher wirken. Von der unwirklichen Musik abgesehen, und dem Rascheln vieler Füße in Laub und Gras war kein Laut zu hören. Kein Wort wurde gesprochen.
Die Gesichter wandten sich jetz dem Kinde zu. Es stand dort in einer Art, die sich schwer beschreiben läßt. Nicht unterwürfig ergeben und ängstlich, wie es vielleicht ein Kind getan hätte, dennoch scheinbar seiner Situation bewußt. Jetzt hatte es den Kopf erhoben und sah in die Runde. Feindselige Gesichter warfen Haß in seine Richtung. Dennoch faßte es ein Gesicht nach dem anderen ruhig ins Auge, bevor es sich zum nächsten wandte. Die Gesichter derer, die von dem Kind direkt angesehen wurden, wandten sich ab. So, als könten sie seinem Blick nicht standhalten. Als das Kind in meine Richtung sah, konnte ich sein Gesicht deutlicher erkennen. Auch ich konnte ihm nicht standhalten. Ich kannte es. Ich hatte es schon oft gesehen. Ein friedvolles Gesicht, mit ruhigen und tiefgrundigen Augen - wieso konnte ich jetzt dieses Gesicht so genau erkennen? Es war doch eben so weit von mir entfernt gewesen, daß ich nicht einmal erkennen konnte, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Ein Schauer überlief mich bei dieser Feststellung und eiskaltes Entsetzen überfiel mich, als ich mich plötzlich da hinten neben dem Grabmal als Gestalt stehen sah - ich konnte mein Gesicht erkennen - halb gebückt, wie in Lauerstellung, und genau beobachtend, was hier zwischen uns vor sich ging.
Plötzlich sah ich, wie sich ein starker Arm in der Menge erhob, ganz in der Nähe des Kindes. Ein dicker, überdimensionaler Knüppel schwang in dessen Hand und im fürchterlichen herniedersausenden Schlag traf der Knüppel.
Ein durchdringend scharfer Knall!
Bestürzt, ja entsetzt, beobachtete ich, wie das Kind zusammenbrach. Alle Gesichter, die ich zuvor beobachtet und zum Teil sogar erkannt hatte, waren abgewandt. In mir mischten sich Ohnmacht und grausige Angst zu einer nie gekannten Empfindung.
Rasch ergriffen zwei Gestalten den Körper des Kindes. Sie betteten den Körper des Kindes in eine Grube und legten deren Abdeckplatte wieder sorgsam darauf. Ich hatte nicht einmal bemerkt, daß die Platte zuvor entfernt worden war.
Eine kleine Glocke, welche ich jedoch nicht sehen konnte, begann zu läuten. Sie läutete und läutete - unaufhörlich, unaufhörlich. Niemand schien sie zu hören und auch meine Ohren vernahmen das Geräusch dieser Glocke irgendwann nicht mehr.
„Sie haben die Freiheit - begraben - haben sie getötet und begraben...“, ging es mir pausenlos durch den Kopf, als ich den Weg nach Hause wieder unter die Räder meines Wagens nahm. Wie ein wild gewordenes Räderwerk ratterte es in meinem Kopf: „Das Begräbnis der Freiheit.“
Seit jener Nacht träume ich diese Träume nicht mehr.
Doch eine tiefe Traurigkeit und ein nicht zu unterdrückendes Gefühl von Verlorenheit bestimmen seit jener Nacht mein Leben.
Und ganz von ferne - fast unhörbar leise - vernehme ich in ganz stillen und gedankenverlorenen Stunden das feine Läuten einer kleinen Glocke.
(c) bleibt bei mir. ausschliesslich privater Gebrauch erlaubt.
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