Das ist richtig UND falsch. Natürlich wirst Du mit jenen "Verbindlichkeiten" deines Glaubens so lange keinen Anstoß erregen, wie Du sie nicht verwirklichst, sondern womöglich als rein spirituell betrachtest - das ist richtig. Gelebten Glauben aber als etwas rein Spirituelles zu betrachten zu wollen, übertrüge die "Verbindlichkeiten" nicht ins Leben und realisiert Deine Glaubenssätze nicht. Damit wäre der Glaube hohl und leer, ohne Auswirkung auf das Leben - das wäre falsch. Wirkliche Verbindlichkeit erfordert gelebte Praxis. Da wird es schwierig, denn hier MUSST Du Deine Glaubenssätze irgendwann auf die Nächsten übertragen. Wenn also "Gebote" wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder Religionsfreiheit Gültigkeit haben sollen, MUSST Du sie als absolut setzen, sonst machte das ja keinen Sinn. Dementsprechend greift DEINE Definition vom Gottesstaat zu kurz. Du bemängelst an ihm, was Du für ein weltliches Staatsgefüge akzeptierst, das zu akzeptieren ja eigentlich auch notwendig ist, nämlich die Verbindlichkeit der Gesetze und Gebote für alle darin lebenden Menschen. Der Unterschied ist nur, dass Du eine wie auch immer staatlich legitimierte und organisierte Autorität akzeptierst, aber offenbar keine göttliche. Warum sollte Gott denn beispielsweise Religionsfreiheit verbieten? Ein Staat, der sich unter religiösen Gesichtspunkten organisiert muss doch nicht zwangsweise intolerant sein - im Gegenteil. Du fragst, wie man die Gesetze eines solchen Staates ausformulieren will. Was glaubst Du, woher Begriffe wie Menschenwürde und Toleranz Andersdenkenden gegenüber kommen. Woher hat die Menschheit ihre Moral, nach der Staatsgefüge eingerichtet wurden? Das Wort Gottes mit seinen Verbindlichkeiten auszulegen, ist natürlich Sache der Allgemeinheit und nicht in erster Linie die von Spezialisten, die Vorschriften erlassen. Jedenfalls nicht mehr, als es jetzt schon der Fall ist durch unsere politischen Instanzen wie Parlament und Gesetzgebung.Zitat von Provisorium
Und wo liegt da der Unterschied zur Betrachtung der Bibel als einem Buch der Weisheit? Durch was anderes wäre ein solches Buch denn Weise, wenn seine Inhalte nicht von allgemeiner Gültigkeit wären? Ein Bibelgläubiger, und da ginge ich mit Dir konform, wäre jemand, der an das Buch als Quelle Gottes und nicht umgekehrt an Gott als Quelle der Weisheit des Buches glaubt. Dieser Glaube wäre falsch. Er manifestierte sich in der Annahme, es gäbe nur eine richtige Möglichkeit der Auslegung - eben die göttliche – und setzt voraus, man hätte sie erkannt. Aber wer glaubt das so stur? Ich fragte nicht umsonst, wen hier im Forum an dieser Diskussion Beteiligten Du als in der von Dir beschrieben Form als Bibelgläubigen bezeichnen würdest. Damit es konkret wird. Man kann immer behaupten es gäbe alles auf dieser Welt. "Diese Welt" ist aber begrenzt auf den Teil, denn wir Überblicken können, den Teil, der uns betrifft - was in diesem Fall die Teilnehmer an dieser Diskussion sind.Zitat von Provisorium
Ich glaube, dass die Bibel das Samenkorn für das Wort Gottes bildet. Was aber die „richtige“ Auslegung und die Verbindlichkeit betrifft, müssen wir sie durch einen Einigungsprozess erst herstellen. Dabei glaube ich, dass der Sinn des Wortes Gottes NIE allein - durch spezialisiertes Studium im stillen Kämmerlein - „gefunden“ werden kann. Der Austausch mit anderen ist unverzichtbar, um es zu erkennen/erfahren.
Da stimme ich zu. Du kannst es natürlich auch umdrehen und behaupten, Toleranz sei die Forderung zur Milde im Umgang mit den "armen, psychisch verwirrten Gläubigen". Ich wollte durch meine ironische Frage in der Diskussion mit fishergirl auf die im Schafspelz daher kommende Überheblichkeit hinweisen, die in einer solchen Forderung liegt, sei sie nun ausgesprochen oder nicht. Ich denke nicht, dass Du jeglicher Verbindlichkeit den Rang absprechen willst. Wie schon erwähnt, ist es wohl eine Frage der unterschiedlichen Autoritäten, denen wir die normative Grundlagenbildung der geltenden Verbindlichkeiten zugestehen wollen.Zitat von Provisorium
Wie heißt es so schön: Bewusstsein ist von vornherein immer schon vermittelt. Auch Du wirst doch eine Grundlage deiner Eigenmeinung haben. Wahrscheinlich sind es viele, sodass Du unter Umständen nicht in der Lage bist, sie zu benennen. Das ist das für mich faszinierende an der Bibel: sie fasst alle Quellen zusammen. Ich habe in meinen Ansichten und "Eigenmeinungen" noch nichts entdecken können, was nicht in der Bibel niedergelegt wäre. Das öffnete mir den Horizont dafür, dass meine eigene Meinung offensichtlich wesentlich älter (und ausgereifter) ist als ich selbst. Womöglich ist also meine sogenannte eigene Meinung gar nicht so sehr mein Eigen, sondern ich bin bloß Medium eines übergeordneten Geistes, der uns alle durchströmt und verbindet? Wie im Übrigen alle anderen Menschen auch. Ich will mich hier nicht zum Propheten stilisieren. Es gilt nun, eine Referenz zu finden, anhand derer wir diesen übergeordneten Geist bestimmen und empfinden können. Warum sollte das nicht die Bibel sein? So wie ein Gesetzbuch Referenz der Rechtsprechung ist, die dadurch aber nicht von vornherein festgelegt ist, sondern eben Auslegungssache. Und damit wir uns da nicht falsch verstehen. Man könnte theoretisch ebenso gut den Koran oder die Thora nehmen. Ich sage theoretisch, weil ich nicht einschätzen mag, wie groß die grundsätzlichen Verständnisschwierigkeiten aufgrund unterschiedlicher kulturhistorischer und sozialer Entwicklungen wären.Zitat von Provisorium
Lesezeichen