@dispicio
Du hast geschrieben: Natürlich wirst Du mit jenen "Verbindlichkeiten" deines Glaubens solange keinen Anstoß erregen, wie Du sie nicht verwirklichst, sondern womöglich als rein spirituell betrachtest - das ist richtig. Gelebten Glauben aber als etwas rein Spirituelles zu betrachten zu wollen, übertrüge die "Verbindlichkeiten" nicht ins Leben und realisiert Deine Glaubenssätze nicht. Damit wäre der Glaube hohl und leer, ohne Auswirkung auf das Leben -das wäre falsch. Wirkliche Verbindlichkeit erfordert gelebte Praxis.
Du hast mit allem Recht, wenn Du in der Glaubenspraxis ein positives Gottesbild voraussetzt. Mit positivem Gottesbild ist mein Gott eben genau so oder so und nicht anders und das „verursacht“ dann natürlich Verbindlichkeiten denen ich folgen und die ich in meinem Leben realisieren muss und die zudem auch noch als verbindlich für andere betrachtet werden müssen, weil Gott eben genau so oder so ist und nicht anders. Der Heilsweg ist hier genau definiert.
Die Glaubenspraxis eines negativen Gottesbildes jedoch kann ausnahmslos keine Verbindlichkeiten schaffen, weil sie eben kein Gottesbild besitzt, das allgemeine Verbindlichkeiten schaffen könnte. Gott ist hier eben nicht so oder so und nicht anders, sondern er ist sozusagen immer anders. Dieses „immer-anders-sein-Gottes“ trennt den göttlichen Bereich strikt vom menschlichen, oder besser kreatürlichen Bereich. Daraus resultiert der Glaube, dass der Mensch nicht dazu in der Lage ist Gott zu erkennen, so wie er Gott ist (und also auch nicht seinen Willen) und dementsprechend können auch keine allgemeinen Verbindlichkeiten geschaffen werden.
Aber auch der Glaube daran, dass man Gott nicht erkennen kann so wie er Gott ist, kann nicht allgemein verbindlich gemacht werden (man kann lediglich erklären, warum man das glaubt), weil dies sonst wieder einer positiven Gottesbestimmung gleich käme. Am Ende bleibt immer nur zu sagen: Nein, so ist Gott nicht, so ist immer nur mein Erkennen, in dem ich Gott erschaffe.
Trotzdem bleibt der Glaube nicht hohl und leer. Denn wenn es meine Erkenntnis ist, in der ich Gott erschaffe so besteht mein Anliegen und Ziel nicht darin dieser Erkenntnis zu folgen, sondern diesen, im Innersten des Geistes stattfindenden Prozess, zum Aussetzen zu bringen, damit sich Gott, so wie er Gott ist in meinen Geist ergießen kann. Darum übe ich das Ruhegebet dessen Ziel und Anliegen es ist aller Bilder ledig zu werden und Gott bildlos zu erkennen und anzubeten. Weiteren Einblick auf die „praktischen Auswirkungen“ auf meinen Alltag und meine Gottesbeziehung habe ich bereits einige Posts zuvor gegeben, als ich Godsservant mein Verständnis von Sünde erläuterte. Außerdem prüfe ich meinen Glauben anhand des Maßstabes, ob ich in der Liebe zu meinen Mitgeschöpfen wachse.
Du hast geschrieben: Wenn also "Gebote" wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder Religionsfreiheit Gültigkeit haben sollen, MUSST Du sie als absolut setzen, sonst machte das ja keinen Sinn.
Was verstehst Du denn hier unter absolut setzen? Wenn ich von Absolutsetzung spreche, dann spreche ich von allerhöchster Verbindlichkeit, also eine Verbindlichkeit die Gott schafft. Deshalb habe ich auch im Kontext mit Bibelgläubigkeit vom Absolutheitscharakter der Bibel gesprochen. Zum Beispiel hat das Gebot Du sollst nicht töten auf dieser Welt genauso Bedeutung, wie in der Welt der Bibel. Aber nur in der Welt der Bibel werde ich immer als Mörder erkannt, in unserer Welt kann ich davonkommen. Das ist der Unterschied und das macht den Absolutheitscharakter biblischer Gebote, gegenüber weltlichen Geboten aus.
Trotzdem haben weltliche Gesetze natürlich immer Gültigkeit. Die Straßenverkehrsordnung gilt eben immer und wenn ich gegen sie verstoße und dabei von der Exekutiven erwischt werde, werde ich zurecht bestraft. Es ist nur ein Unterschied welche Legislative der Exekutiven diese Macht verleiht. Eine auf demokratische Weise gewählte Regierung auf Grundlage des Grundgesetzes, oder eine, wie auch immer an die Macht gekommene (eher unwahrscheinlich, das sie auf demokratische Weise an die Macht gekommen ist) Gruppe von Menschen, die die Bibel als Grundlage ihrer Gesetzgebung versteht.
Die Menschenrechte z.B. mussten gegen den Widerstand der Kirche durchgesetzt werden. Dazu findest Du haufenweise Material im Internet.
Du hast geschrieben:Ein Staat, der sich unter religiösen Gesichtspunkten organisiert muss doch nicht zwangsweise intolerant sein - im Gegenteil.
Wenn er ein positives Gottesbild besitzt, kann er nicht tolerant sein oder nur in dem Rahmen, dass es ihm egal ist, das Andersgläubige in die Hölle fahren. Es gibt doch die Hölle? Und nur den einen Weg zu Gott? Und den Missionsbefehl? Oder sprichst Du, wenn Du im Gegenteil meinst von einem negativen Gottesbild? Dann gebe ich Dir Recht!
Du hast geschrieben:Durch was anderes wäre ein solches Buch denn Weise, wenn seine Inhalte nicht von allgemeiner Gültigkeit wären?
Weisheit schafft keine Verbindlichkeiten, sondern Beispiele an denen man sich orientieren kann, aber nicht muss. Es ist sozusagen weise sich daran zu orientieren, aber man kommt nicht in die Hölle wenn man es nicht tut.
Du hast geschrieben: Wie heißt es so schön: Bewusstsein ist von vornherein immer schon vermittelt. Auch Du wirst doch eine Grundlage deiner Eigenmeinung haben.
Selbstverständlich habe ich die, davon aber erschöpfend Auskunft zu geben würde den Rahmen dieses Threads sprengen, weil ich zunächst die erkenntnistheoretischen Grundlagen „meiner Vorstellung von Bewusstsein“ erläutern müsste und das geht nicht so nebenbei, weil diese Grundlage eine Reise beschreibt, ausgehend vom Neuplatonismus, über den Idealismus von Kant, bis hin zum modernen Konstruktivismus.
Du hast geschrieben:Womöglich ist also meine sogenannte eigene Meinung gar nicht so sehr mein Eigen, sondern ich bin bloß Medium eines übergeordneten Geistes, der uns alle durchströmt und verbindet?
Ich würde es anders sagen, auch wenn ich glaube, dass wir uns an diesem Punkt tatsächlich die Hände schütteln könnten und gebe damit dann doch einen kurzen Einblick in die Grundlagen meiner Eigenmeinung...
Die von uns erkannten Gegenstände der Welt sind nicht die realen Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen, die nicht unabhängig von unserer Erkenntnis objektiv in Raum und Zeit vorhanden sind. Raum und Zeit sind vielmehr unsere Anschauungsformen oder Erkenntnisstrukturen, nach denen die Gegenstände geformt und in denen sie so erkannt werden, d.h. nicht nur einige Eigenschaften der Dinge wie z.B. ihre Farben werden erst in dem Erkenntnisprozess geschaffen (was die Neurobiologie erwiesen hat), sondern dieses Schaffen betrifft die Grundstrukturen der Dinge, ihr Sein in Raum und Zeit. Das Ansichseiende (der Dinge, Gottes) kennen wir so gar nicht und weder die von uns erkannte Welt der Erscheinungen noch unsere von vornherein, a priori, vorhandenen Erkenntnisstrukturen wie die von Raum und Zeit haben mit dem Ansichseienden etwas zu tun...
LG
Provisorium
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