Hallo Frank, dem muss ich schon aus religionsgeschichtlicher Sicht deutlich widersprechen. Keines Wegs sind die Thesen des Marcion so sang und klanglos vom Tisch der Theologie verschwunden. Ich empfehle hierzu das Standartwerk von Adolf von Harnack Marcion: Das Evangelium vom fremden GottWas mich an deiner Äußerung störte, war auch mehr der Satz: (starangels Behauptungen seien die) "konsequente Fortführung einer Christologie und Theosophie, welche ihre Ursprünge im freikirchlichen Raum wieder findet."
dem kann ich mich nur wirklich nicht anschließen. Zumal Markion zwar viel beeinflusste, aber keine Grundströmung im Christentum darstellt. Er wurde schon frühzeitig "abgewählt".
Zitate:
Marcion hat die Christenheit vom AT befreien wollen, die Kirche aber hat es beibehalten; er hat nicht verboten, das Buch in die Hand zu nehmen, ja er hat sogar anerkannt, daß in ihm Nützliches zu lesen sei; aber er sah in ihm einen anderen Geist als im Evangelium, und er wollte in der Religion von zwei Geistern nichts wissen. Hat er recht oder hat die Kirche recht, die sich von dem Buche nicht getrennt hat? Die Frage muß aufgeworfen werden; denn vor uns steht nicht ein beliebiger Theologe ohne Wirksamkeit und Anhang, sondern der Mann, der das Neue Testament begründet und eine große Kirche geschaffen hat, die Jahrhunderte lang blühte. Er darf mit Recht auf die Ehre Anspruch machen, daß man ihn noch heute ernsthaft nimmt.
Durch Luther wurde die Paulinisch-Marcionitische Erkenntnis des Unterschieds von Gesetz und Evangelium wieder in den Mittelpunkt gestellt; sie wurde der Hebel der Reformation als geistlicher Bewegung. Seine allen anderen Glaubensbetrachtungen übergeordnete These lautete im Negativen: „Lex non potest nobis monstrare verum deum“; das Gesetz ist „der Juden Sachsenspiegel“, ist ein „leibliches Gesetz“, das die Christen nicht mehr bedürfen, sie haben dafür das kaiserliche Recht; die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, auch aus seiner Summe, ist ficta et servilis. Die ganze Gesetzessphäre als irdische untersteht dem Christen („De legibus quibuscumque tandem nemo potest iudicare nisi ille, qui evangelium habet et intelligit“ (Wrampelmeyer, Tagebuch über Luther des Cordatus, 1885, S. 55), nicht er ihr; als religiöse aber gehört sie einer überwundenen Stufe an; wer das nicht erkennt, muß Jude bleiben. Da aber das Gesetz durch das gesamte AT, einschließlich der Propheten, hindurchgeht, so liegt das ganze einheitliche Buch unterhalb der Christenheit.
Noch deutlicher sah Agricola: er beurteilte das Gesetz als einen verfehlten Versuch Gottes, durch Drohung die Menschen zu leiten. Kann Gott aber etwas verfehlen? (Auf die Verwandtschaft zwischen Agricola und Marcion hat Frank aufmerksam gemacht (Theologie der Konkordienformel II, S. 255).Von hier aus war kaum mehr als ein Schritt zu der besonnenen Erklärung, die Luther in Bezug auf die alexandrinischen Bestandteile des AT ja auch wirklich abgegeben hat, die ATlichen Bücher seien „gut und nützlich zu lesen“, gehörten aber nicht neben das NT, weil sie keine kanonische Richtschnur seien.
Dies war das Entscheidende. Während Agricola wie Marcion verkündigte, daß Gottes Güte allein die Buße bewirkt, und damit die Überflüssigkeit des Gesetzes für den ordo salutis proclamierte, glaubte Luther, das Gesetz zur Erweckung der Gewissen nicht entbehren zu können und fand auch sonst Gesichtspunkte, nach welchen die Verkündigung des Gesetzes als des deutlichen Ausdrucks des h. Willens Gottes nicht aufhören dürfe. Er trat damit zwar in Widerspruch zu anderen, ihm teuren Glaubensgedanken, und das hat ihn selbst innerlich angefochten; aber seine konservative Stellung zum AT war entschieden.
So steht die Frage des AT, die Marcion einst gestellt und entschieden hat, heute noch fordernd vor der evangelischen Christenheit. Die übrige Christenheit muß sie überhören; denn sie ist außerstande, die richtige Antwort zu geben, der Protestantismus aber kann es und kann es um so mehr, als das schreckliche Dilemma, unter welchem Marcion einst gestanden, längst weggeräumt ist. Er mußte das AT als ein falsches, widergöttliches Buch verwerfen, um das Evangelium rein behalten zu können; von „verwerfen“ ist aber heute nicht die Rede, vielmehr wird dieses Buch erst dann in seiner Eigenart und Bedeutung (die Propheten) allüberall gewürdigt und geschätzt werden, wenn ihm die kanonische Autorität, die ihm nicht gebührt, entzogen ist.
Hat Marcion nicht wirklich recht gegenüber der großen Christenheit, damals und heute noch? Bringt er nicht das konsequente Schlußglied für die Kette, die durch die Propheten, Jesu und Paulus bezeichnet ist, trotz des gewaltigen Unterschieds? Ist denn der paradoxe Unterschied zwischen den Propheten und Jesus etwa geringer, wenn Jesus die Propheten zwar bestätigt, aber verkündigt: „Niemand kennt den Vater denn nur der Sohn“? Und wiederum, ist der paradoxe Unterschied zwischen Jesus und Paulus kleiner, wenn Paulus sich zwar in allem an das Wort des Herrn halten will, aber ihn gegen dieses Wort als das Ende des Gesetzes bezeichnet und einen antinomistischen Glaubensbegriff entwickelt, der durch kein Wort Jesu wirklich gedeckt ist? Ferner, gibt es eine rationale Theodizee, die nicht ihrer selbst spottet, und ist es nicht ein immer wieder gescheitertes Unternehmen, Wesen und Art, Grund und Hoffnung des Glaubens irgendwie mit der „Welt“ in Einklang zu setzen, d. h. von der Vernunft und dem Weltlauf aus zu begreifen? Wird der Geist nicht wirklich erst zum Geist, die Seele zur Seele und die Freiheit zur Freiheit, wenn ihnen jene unbegreifliche Liebe geschenkt wird, die nicht von dieser Welt ist? Und sind „Gerechtigkeit“, Moral und Kultur wirkliche Heilmittel für den ans Sinnliche gebundenen Menschen, sind sie nicht Palliative, die schließlich das Übel noch ärger machen, wenn der selbstlose höhere Liebeswille fehlt? Erzeugt der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir wirklich den Aufschwung zur aeterna veritas und vera aeternitas, die in der Liebe zu Gott und den Brüdern gegeben ist, oder sind sie nicht Kräfte, die bei jeder großen Probe versagen? Gibt es nicht wirklich drei Reiche, von denen zwei trotz ihres Gegensatzes untrennbar in sich verflochten sind, und nur das dritte eine neue Sphäre bezeichnet? Und ist nicht Christus — tatsächlich, was geht einen lebendigen Menschen die Frage nach dem Absoluten an? — der Anfänger und Vollender der neuen, freimachenden Gotteskraft?
Soviel von Harnack, der noch immer als Leitfigur protestantischer Theologie gesehen wird!
Mit dem Aufhören der marcionitischen Gemeinden ist ihr Anliegen nicht beseitigt. Es begleitet vielmehr die Kirche. Im theologischen Liberalismus und Existentialismus wurde der biblische Kanon für prinzipiell offen angesehen, was die Möglichkeit gibt, sich einen eigenen Kanon nach subjektivem Empfinden zu schaffen. Ganz im Sinne Marcions erklärte Adolf v. Harnack: "Allein der Sohn, nicht der Vater gehört ins Evangelium."
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