Die Geschichte vom Mädchen mit der Holzplanke

- oder was ein Konzept ist

Einst hatte sich eine Anzahl Menschen auf einem hübsch grossen Schiffe ihr Leben nett eingerichtet und liessen sich getrost von den Strömungen der Weltmeere treiben. Alle gebärdeten sich recht heiter, denn sie fühlten sich sicher und frei. Ein so grosses Schiff wie das ihre vermochte auch starken Stürmen standzuhalten. Darüber hinaus war das Schiff mit Rettungsringen und Rettungsbooten ausgestattet, damit sich alle noch sicherer fühlen konnten, doch kaum einer machte sich mit diesen Notbehelfen vertraut.

Die Menschen feierten das Leben und genossen die Tage, sie assen und tranken und heirateten, und achteten nicht des Zerfalls ihres Schiffes, an dem unvermeidbar über die Dauer von Generationen der Zahn der Zeit nagte. Eines Tages aber tobte ein überaus heftiger Sturm heran und zerriss das Schiff, so dass es in Windeseile in den Tiefen des Meeres versank. Die Menschen versuchten sich in die Rettungsboote zu retten oder schnappten sich in letzter Sekunde einen Rettungsring. Andere klammerten sich an Holzplanken, die auf dem Wasser schwammen, aber die meisten ertranken jämmerlich. Einem kleinen Mädchen hatte jemand einen Rettungsring übergeworfen, und so trieb es wohlbehalten im Wasser. Es sah die Szenen der Kämpfe um Leben und Tod, sah wie das Wasser seine bisherige, vertraute Welt verschlang und erstarrte vor Angst und Entsetzen. Unbewusst griff das Kind nach einer Holzplanke, welche gerade vorbeischwamm. Daran fand es Halt, und der Halt vermittelte ihm Trost. So überlebte das Mädchen, trieb im Wasser – und die Zeit von Stunden dehnten sich zu Tagen, und die Tage kamen ihm wie Jahrzehnte vor. Irgendwann tauchte ein mächtiges Schiff auf, dessen imposante Grösse schäumende Wellen aufwarf und das traumatisierte Kind dazu trieb, noch fester Halt zu suchen an seiner Holzplanke. So wurde es nach Ewigkeiten für sein Zeitgefühl samt Planke aus dem Wasser gehoben und im grossen Schiff geborgen. Das Kind aber liess die Planke nicht mehr los. Verzweiflung überfiel es, wenn jemand ihm das schwere Stück Holz abnehmen wollte. Die Planke war für das Kind zum Konzept geworden, das ihm Halt, Trost und das Überleben sicherte. Auf dem Kulminationspunkt der Angst hatte das Kind an der Planke einen Halt gefunden; den einzigen Halt in einer Welt ohne festen Grund. Es klammerte sich auch im Schlafe noch daran fest. Die Planke gab einst in den schwarzen, bedrohlichen Wogen festen, tröstlichen Halt. Das Kind hielt sich damals bis zur Erschöpfung an der Planke fest. Wenn es erwachte, so fühlte es als erstes nach der Planke; spürte die Festigkeit des Holzes in seinen Armen, und damit ein wenig Sicherheit. Die Planke vermittelte dem Kind das tröstliche Gefühl, nicht alleine zu sein. Die Holzplanke nährte des Mädchens Überlebenswillen und wurde so zum Inbegriff seines Überlebens.

Auf dem Schiff, welches das Mädchen barg, begann ein neues Leben. Das Mädchen wurde versorgt mit Nahrung und Kleidung; Menschen kümmerten sich liebevoll um seine Psyche, es wurde beschenkt mit Spielsachen. Die Holzplanke aber blieb dem Mädchen unentbehrlich. Nichts und niemand vermochte das Kind davon zu trennen. Was dem Kinde einst Halt gab in den traumatischen Ereignissen rund um sein Überleben, das wurde in der schönen, neuen Welt aber zusehends mehr und mehr zum Hindernis. Das Kind begann dennoch, sich allmählich recht wohl zu fühlen. Es spielte und ass, - aber immer nur mit einer Hand, es schlief, - aber nicht ohne die Planke, es lernte, aber nur im Beisein der Planke. Mit der Zeit konnte es sich zwar für ein paar Augenblicke von der Planke lösen, - aber alsbald befiel es Unruhe, bis es wieder die Planke im Arm spürte.

Die Jahre vergingen. Die Menschen, die vertraut waren mit des Mädchens Lebensgeschichte, gewöhnten sich an die Holzplanke und achteten ihrer mit der Zeit kaum mehr, da sie die Hintergründe verstanden. Nur selten gab es Momente, da die Planke störend hervortrat. Das Mädchen war im Grunde recht glücklich in der neuen Welt. Es wurde zur Frau und fand einen Mann, den die Planke nicht störte. Die Jahre rundeten sich, doch das Holz der Planke wurde langsam morsch. Es geschah immer öfter, dass ganze Teile sich lösten und verlorengingen, während das Paar zur Familie geworden war und unterwegs war mit ihren Kindern. Eines Tages war die Planke so brüchig und morsch geworden, dass selbst die Frau es nicht mehr leugnen konnte, dass dieses morsche Holzstück ihr keinen Halt mehr bieten konnte. Das einst so starke Holz zerbröselte und zerstob unter ihrem Zugriff. Entsetzen lähmte die Frau, wenn sie den Zerfall der Holzplanke in Erwägung zog: Ihr Halt war dahin. – Und wenn sie jemand fragte, wie es ihr gehe, so fühlte sie nur Leere – und Einsamkeit – und Angst! Was ihr bisher Sicherheit und Halt vermittelt hatte durch ihr ganzes Leben hindurch soweit sie sich zurückerinnern konnte, dieser Halt war zerfallen bis auf einen kleinen Rest, dessen endgültige Auflösung absehbar war. Es gab nichts mehr, das sie fortan halten würde. Ihr ganzes Leben hing doch an dieser Planke, ihr Überleben war davon abhängig, - und nun brach auch dieser letzte Halt, dieses Konzept von ihrem Leben weg. Alles Schöne war dahin. Schon spürte sie, wie der Boden unter ihren Füssen zu wanken begann; alles zerfloss zu unbeständigem Wasser – und sie hatte keine Planke mehr… Sie kämpfte dagegen an, sie wollte zurück in die schöne Zeit, da sie sich – für ihre Begriffe – sicher fühlte. Sie hielt das Bild einer intakten Planke aufrecht. Die nackten Tatsachen aber kämpften gegen ihr Bemühen; das Leben selbst schien sich gegen sie verschworen zu haben. Sie mobilisierte zwar alle Kräfte, um die Planke zu erhalten. Ihre Kräfte vermochten aber den Zerfall nicht aufzuhalten. Als sie keine Kraft mehr fand, spürte sie die Erschöpfung nahen, Erschöpfung, die sie einst in der grössten Verzweiflung auf dem Meere eingeholt und übermannt hatte. Sie würde bald nicht mehr können, sie würde nachgeben müssen, und sie wusste – diesmal war keine Planke da, die sie halten würde. Sie fühlte, dass sie nicht mehr kämpfen mochte und spürte gleichzeitig, wie der Boden unter ihren Füssen immer heftiger wankte. Da rief sie verzweifelt in ihre Umgebung: Ich kann so nicht mehr lange! …