Liebe Mirjamis, da hast du aber einen Stein (Menschensohn) angestoßen, der wohl zu den am meisten diskutierten Wörtern des N.T. gehört. Der Theologe Hahn schrieb einst dazu: Von allen christologischen Titeln ist der „Menschensohn“ am eingehendsten untersucht worden. Und der Theologe A.J.B. Higgins fragt nicht zu unrecht, ob das Menschensohnproblem gar unlösbar ist.

Ich möchte bewusst dir auf deine Frage so beginnend antworten denn es gibt eigentlich mehr Fragen wie Antworten zu diesem Thema.

Wikipedia hat zu diesem Thema etwas Interessantes zu bieten und es zeigt wie komplex deine Frage ist: „Das Buch Daniel beschreibt den, „der aussah wie der Sohn eines Menschen“, als zukünftigen Vertreter der Menschheit, dem JHWH nach dessen Endgericht seine Herrschaft über die kommende Welt, das Reich Gottes, übertragen werde. Dieser Figur wurde in der nachbiblischen jüdischen Apokalyptik auch Gottes Aufgabe als endzeitlicher Richter zugewiesen, und sie wurde mit dem Messias identifiziert.
Das NT überliefert durchgängig den griechischen Ausdruck "ὁ υἱὸς τοὺ ἀνθρώπου" (ho hyios tou anthropou - „der Sohn des Menschen“). Er erscheint hier immer als Eigenaussage Jesu in der dritten Person, nie als Aussage über ihn oder andere. Ob und in welcher Bedeutung Jesus den Begriff verwendete und ob er sich oder einen Anderen damit meinte, sind einige der wichtigsten Streitfragen der neutestamentlichen Forschung mit weitreichenden theologischen Implikationen.
Die Echtheit neutestamentlicher Menschensohnworte ist umstritten. Während die einen die Menschensohnworte späteren, dogmatisierenden Stadien der Überlieferungsgeschichte zuweisen, sehen andere einen Kern der neutestamentlichen Menschensohnworte als authentisch an, aber als unterschiedlich zu bestimmen und deuten: als Anknüpfung an im damaligen Judentum umlaufende apokalyptische Vorstellungen, als generische Aussagen über das Menschsein und als aus vorgegebenen Traditionen nicht ableitbare Aussagen Jesu über seine Zukunftserwartung, seine Endzeitrolle und sein Selbstverständnis. Dazu werden heute keine Gesamthypothesen mehr aufgestellt, sondern für jedes Einzelwort verschiedene Beurteilungen abgegeben.“

Nun machen sich seit Jahrhunderten christliche Forscher Gedanken, was nun Jesus damit gemeint haben könnte und selbst unter jüdischen Forschern herrscht eine große Zwiespältigkeit in den Deutungsthesen.
Wo liegt das Problem? Der Punkt ist, dass es wir im sog. Alten Testament nur wenige Bezüge zu einem sog. Menschensohn finden. Einmal im Buch Daniel und dann wieder bei Ezechiel. Letzterer wird sage und schreibe 87 – Mal als solcher bezeichnet. Darüber hinaus erscheint gerade bei Ezechiel Gott selbst ein solcher Menschensohn. Bei Daniel stellen sich die Aussagen anders dar und werden auf eine messianische Gestalt projiziert.

Doch auch das N.T. bietet erstaunliches. Bei Paulus und den sog. Katholischen Briefen fehlt jeglicher Bezug zu dieser Anrede Menschensohn. Bei den Synoptikern erscheint dieser Begriff jedoch über 60 – Mal, allerdings – wie oben schon zitiert - oft in der dritten Person. In der Apg. taucht er nur ein Mal auf und in der Apokalypse nur zwei Mal. Dieses Missverhältnis wirft grundsätzliche Fragen auf.

Darüber hinaus wirft dieser „Titel“ noch eine weitere grundsätzliche Frage auf, über alle Titel Jesu (Prophet, Herr, Gesalbter, etc) entstehen laut der Evangelien Streitereien aber seltsamer Weise nicht über diesen Begriff, weder bei Pharisäern noch bei Sadduzäern. Warum nicht da?

Letztlich stellt sogar das Johannesevangelium die Frage aller Fragen: Was ist der Menschensohn?

Das Nachfragen der Theologen ist durchaus berechtigt und eben nicht pauschal zu beantworten, denn die Quellenlage zu diesem Begriff ist äußerst dürftig und zugleich sehr spekulativ.

Doch beginnen wir bei dem Begriff selbst. In diesen ganzen theologischen Wirrwarr brachten zu erst die Linguisten etwas Licht. Heute besteht theologische Einigkeit darin, dass dieser Begriff nicht aus dem griechischen stammt, sondern aus dem aramäischen entlehnt ist. Zugleich konnte man nachweisen, dass es sich hier um ein Substantiv handelt und ein unbestimmtes Pronomen (einer, irgendeiner, jemand, etc) ersetzt. Menschensohn steht und stand also in erster Linie für das, was ein Menschensohn ist, ein Sohn eines Menschen. Das ist die Grundaussage zu diesem Begriff. Uneinigkeit besteht darin, welche theologischen Deutungen diesem Begriff inne wohnen und welche Inhalte Jesus wirklich damit verband. Wann wird der Menschensohn zum Allgemeinbegriff und wann wird er zur messianischen Geheimoffenbarung? Dazu eine sehr gutes Beispiel aus der jüdischen Literatur: „Es wird erzählt, dass Rabbi Jehuda in ein einzelnes Tuch eingewickelt bestattet wurde, denn er sagte: „Nicht wie (ein - der) Menschensohn geht, wird er wiederkehren. Aber die Rabbinen sagen: So wie (ein - der) Menschensohn geht, so wird er wiederkommen“. (yKet 35a)
„Rabbi Simeon ben Jochai sagte: Wenn ich auf dem Berg Sinai gestanden hätte, als Israel die Tora gegeben wurde, hätte ich den Barmherzigen gebeten, für den Menschensohn zwei Münder zu schaffen: einen für das Studium der Tora und einen für den Lebensunterhalt. Er sagte auch: Die Welt erträgt kaum die Anklage, die aus einem Mund kommt, wie viel schlimmer, wenn es zwei (Münder) gäbe“ (yBer 3b, Shab 3a)

Allein an diesen beiden Zitaten zeigt sich deutlich die Wechselwirkung der Begriffswelt und es bleibt letztlich dem Leser überlassen eine Deutung zu ersinnen.

Ein ganz anderer Sachverhalt zeigt sich jedoch wenn wir zu den Essenern und in die apokryphe Literatur schauen. Hier wird der Begriff Menschensohn zum Königpriester (Essener) und zum ÜberMessias (bei Henoch). Wir wissen also sehr wohl, dass in apokalyptischen Kreisen der Bezug zu dem Buch Daniel besteht, jedoch in der rabbinischen Welt der Zeit Jesu kaum einen Widerhall findet. Wie das? Es mag daran liegen, dass sich die rabbinische Welt selbst auferlegte kaum spekulative Deutungen bezüglich eines Messias zu tätigen, da die Tanach viel zu wenige klare Aussagen tätigt und immer die prophetische Verkündigung ein Mysterium erhalten will. Es gibt Andeutungen, die viel Raum für Spekulationen offen lässt, mehr eben auch nicht. Schaut man in die sog. jüdisch – christliche Offenbarungsliteratur, so ist dieser Sachverhalt klar belegt. Allein das Buch Henoch bietet hier alles, was man sich nur an Vorstellungswelten ausmalen kann.

Doch was sagen denn die berühmten Danielverse wirklich aus?

„Dan 7,13 Ich schaute, schaute in der Nachtschau, da, mit den Wolken des Himmels kam einer wie ein Menschensohn, er gelangte bis zum Hochbetagten und wurde vor ihn gebracht / geführt. Dan 7,14 Ihm ward Gewalt und Ehre gegeben und Königschaft, alle Völker, Stämme und Zungen dienten ihm: seine Gewalt (Herrschaft) ist in Weltzeit, Gewalt, die nie vergeht, und seine Königschaft nie zu zerstören.

Im ersten Augenblick meint man, wenn man diese zwei Verse für sich so stehen lassen würde, es geht hier um einen einzelnen Menschen. Doch wenige Verse erklärt der Autor weiter:
„Dan 7,27 Und das Königreich und die Gewalt (Herrschaft) und die Größe der Reiche unter den Himmeln allesamt, gegeben wird es dem Volk der Heiligen des Höchsten, sein Königtum ist Königtum auf Weltzeit, und alle Gewalten werden es verehren und ihm gehorchen.“

Besonders im letzten Vers wird etwas sehr offensichtlich – etwas überaus Typisches für die gesamte apokalyptische Literatur des Tanach, es sind die vagen Wechselbedeutungen und Zuordnungen, die eben keinen Rückschluss auf bestimmte Personen zulassen wollen, sondern es zum Mysterium erklären. Deutlich wird es, wenn man sieht wie aus einer (scheinbaren) Person (Einzahl) plötzlich ein Volk der Heiligen wird (Mehrzahl), um dann wieder zu einer Person zu verschmelzen (sein Königtum). Ähnliches finden wir ganz besonders bei Jesaja, wo ganz Israel zum einen als Sohn Gottes deklariert wird und zum anderen eine Einzelperson beschrieben wird.

Wenn Jesus das Buch Daniel kannte – und davon gehe ich aus, dann wusste Jesus um diese Wechselwirkung der Begriffswelt, zumal im aramäischen – hebräischen diese Sachlage noch deutlicher hervortritt. Was wollte Jesus also mit dieser Begriffsanwendung sagen? Zumindest offensichtlich nichts, was die Gemüter seiner Gegner erregen könnte, so zumindest der Befund aus den synoptischen Evangelien. Kannte hingegen Jesus auch die Begriffswelt des Buches Henoch und die Interpretation der Essener, die allerdings der Mehrheit der Israeliten unbekannt gewesen dürfte? Ich gehe auch davon aus, denn ich sehe Jesus als guten Kenner essenischer Theologie und auch teilweisen Verbreiter ihres Lehrgutes. Das würde zumindest mir erklären, warum diese Begriffswelt zu messianischen Andeutungen werden könnte, doch vom einfachen Volk und den rabbinischen Gelehrten nicht verstanden wurde.

Halten wir abschließend fest, der Begriff Menschensohn wurde vom Volk und von den Gelehrten als das verstanden was er aussagt: Sohn eines Menschen oder auch Menschenkind im Allgemeinen. Zugleich verstand man Daniel – wohl Daniel auch selbst – die Wechselwirkung zwischen Volk und einer einzelnen Person nicht als Widerspruch, sondern als Mysterium, welches keiner Deutungen bedarf.

In apokalyptischen Kreisen gab es eine reine personenbezogene Deutung als Königpriester oder aber als ÜberGesalbter, die allerdings im Volk Israel nicht Fuß fassen konnte.

In der frühen christlichen Theologie / Christologie (z.B. Paulus, frühen Kirchenväter) spielte der Titel keine wesentliche Rolle und wurde selbstverständlich mit Daniel verbunden – allerdings Daniel Vers 27 aus dieser Deutung ausgeklammert.

So ist kurz zusammengefasst die Sachlage.

Nun noch kurz zu der Wechselwirkung vom Sohn Gottes und dem Menschensohn. Anderen Ortes habe ich ja zu der Begriffswelt Sohn Gottes Stellung genommen. Zusammengefasst, war ein Begriff, der vornehmlich von Rabbinen verwendet wurde doch auch das einfache Volk verstand sich als solches. Im weiteren Zusammenhang kommen wir nun aber zu einem noch ganz wesentlichen Hintergrund, denn die Gegenüberstellung von Menschensohn und Gottessohn ist kein Widerspruch, sondern Ausdruck religiösen israelitischen Selbstverständnisses. Der Mensch steht genau in diesem Spannungsbogen seines Daseins Sohn / Tochter Gottes sein zu wollen und zu sollen und doch auch Menschenkind ist. Gott und Mensch wollen gar nicht so recht zueinander passen, weder von Wesenseigenschaften noch von Gestalt her. Wir sind endlich, Gott ist unendlich, wir sind Irdisch, Gott ist Geist. Und doch, Gott stellt den Menschen genau in diesen Spannungsbogen, denn wir sind durch Gott erschaffen, ihm (unbegreifbar) ebenbildlich geformt. Wir sind Teil von Gott und Gott ist Teil von uns, Odem aus „Ihm / Ihr“ selbst, unsere Mutter, unser Vater und wir sind Kinder dieses Gottes, gleich wohl wir irdische Mütter und Väter haben und ihre Kinder sind, also sie Teil von uns und wir Teil von ihnen sind. In dieser Paradoxie lebt der Mensch und genau in dieser Wechselwirkung steht auch dieser Rabbi Jesus. Er ist Gottes Sohn und Menschensohn, dem Himmlischen ganz nah und oft auch ganz fern. Denn auch ein Jesus wusste ein „Lied“ davon zu singen, dass man sich selbst überwinden muß, um den Fesseln des irdischen zu entrinnen, um dafür dem Anspruch des Himmlischen gerecht zu werden. Als „Mystiker“ erlebte er in besonderer Weise den Kampf in diesem Spannungsbogen Gottes. Hier wurde ihm seine irdische Mutter fremd („der ist meine Mutter und meine Vater, der dem Willen Gottes folgt), hier wurde er zum leidenden und kämpfenden Gottessohn („las diesen Kelch an mir vorüber gehen“), hier wurde er zum verzagten („warum hast du mich verlassen“) und vor allem wurde er in seinen Selbsteinschätzungen überaus nüchtern und realistisch („was nennst du mich gut, es gibt keinen Guten außer Gott“; „es ist dem Menschen unmöglich in das Königtum Gottes zu gelangen, doch Gott vermag alles“).

Was man auch immer in die Person Jesus hineininterpretieren möchte, ihm andichten oder wegdichten möchte, an Erwartungen knüpft oder verwirft, letztlich bleibt sein Lebenszeugnis ein sehr menschliches und doch auch göttliches. Beispielhaft in vielem und abschreckend in so manchem.

Begriffe und Titel sind menschliche Wortschöpfungen, die letztlich nichts darüber aussagen, wie und was bei Gott wirklich ist. Gerade das lehrt uns Daniel, der Gott reine Wolle als Haarpracht angedeihen lässt und Ihm ein schneeweißes Gewand verordnet, Ihn auf irdischen Feuerflammen thronen lässt und dessen Feuerthron (einem Rollstuhl gleich) Feuerräder hat. Sehr menschlichenbildlich eben, gleich eines Menschensohnes Verstandeswelten zulassen. Müssen wir diese Bilderbuchwelt wirklich wortwörtlich und ganz ernst nehmen?

In diesem Sinne, viel Freude beim Nachsinnen über den Sinn der Wortschöpfung Menschensohn und Gottessohn.

Ich hoffe liebe Mirjamis, du konntest einige Antworten finden.

Absalom