Die Weisheit der Bäume

Es wurde Herbst, und sie gingen durch raschelndes Laub.
Ihre Füße wühlten sich ein, und wie Kinder rollten sie sich in
den Blättern und bewarfen sich mit ihnen.

Er lag auf dem Rücken und blickte in die Eiche über sich.
Der Baum war fast nackt, und seine grauen Äste glänzten
matt. Er wusste, dass kein einziges Blatt am Baum bleiben
würde. Nur kahle Äste.

„Warum?“ fragte er. „Warum?“

„Das ist der Zyklus des Jahres.“

„Das ist mir zu wenig. Ich wehre mich gegen die Zerstörung
des Winters, gegen das Erfrieren, gegen das Vermodern im
Herbst.“

Still wiederholte sie: „Es ist der Zyklus“, und nach einer Pause
fügte sie hinzu: “Dieser Baum wächst nur, weil vor ihm Jahr-
tausende lang die Bäume ihre Blätter fallen ließen. Diese Blätter
sind nun zu Erde geworden und ermöglichen jetzt das Wachstum
dieses Baumes.“

In ihm widersetzte sich noch etwas, aber schon sprach sie
weiter. „Ich spüre schon die Herbststürme in der Luft. Es wird
nicht mehr lange dauern, bis sie wie Peitschen durch diese
Bäume fahren. Und wehe dem Baum, der den Reichtum seiner
Blätter behalten hat! Die Stürme werden ihn abbrechen oder
entwurzeln, und als Krüppel wird er zurückbleiben. Er muss die
Blätter loslassen, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Das ist
die Weisheit der Bäume. Auch könnte er in der kalten Jahres-
zeit so viele Blätter nicht erhalten. Wenn alles friert, beschränkt
sich das Leben auf die einfachsten Funktionen, um zu überleben.
Das ist die Weisheit der Bäume.“

Langsam schmolz der Widerstand in ihm, und er dachte an den
Zyklus des Festhaltens und Loslassens in seinem Leben. Er
wusste, dass ihm nichts gehörte. Alles war nur vorläufig.

Aus: Ulrich Schaffer, Sammle mir Kiesel am Fluss, Herder 1998