Sind die ältesten Handschriften die zuverlässigsten?

Die „Kronzeugen“ der Textkritik, die die Verwerfung des reformatorischen Textes
begründen sollen, sind eine Handvoll alter, aus der alexandrinischen Überlieferung
stammender Majuskel-Handschriften[11], allen voran der Codex Sinaiticus (oft
Codex Aleph genannt) und der Codex Vaticanus (Codex B), beide aus dem 4. Jh. In
ihnen wurden viele, z. T. wichtige Worte, Verse und Abschnitte, die im Mehrheitstext
überliefert sind, ausgelassen bzw. verändert.

Von fast allen Vertretern der Textkritik wird behauptet, diese alten Handschriften
seien den Originalen in der Textüberlieferung am nächsten, obwohl sie sich vielfach
untereinander widersprechen und sich durch häufige und schwerwiegende
Abschreibfehler u. a. als unzuverlässige Zeugen ausweisen (s. u.) Dagegen werden
die etwa 2.500 Minuskel-Handschriften[12] und die zahlreichen Majuskeln (ab dem
5. Jh.), die den „Mehrheitstext“ bezeugen, von der Textkritik als unwesentlich für die
Bezeugung des Urtexts abgewiesen und gar nicht beachtet.
Die Annahme, daß die ältesten Textzeugen des NT auch die zuverlässigsten seien,
klingt zwar zunächst einleuchtend. Sie wurde aber schon im 19. Jh. von bibeltreuen
Gläubigen und Gelehrten, darunter solchen hervorragenden Kennern der
Textgeschichte wie John William Burgon[13] und Frederick Henry Ambrose
Scrivener aus England, abgelehnt und widerlegt. Sie haben umgekehrt gezeigt, daß
gerade in den ersten Jahrhunderten die Textüberlieferung in ihrer Zuverlässigkeit
sehr uneinheitlich war.

Die Manuskripte des Sinaiticus und Vaticanus sowie die Papyrusmanuskripte
stammen aus einer Überlieferung, die ihren Ursprung in Alexandria bzw. Ägypten
hat. Dieses Gebiet war weit vom Standort der Originale entfernt, so daß die
Schreiber ihre Abschriften kaum an beglaubigten Urschriften prüfen konnten und die
Leser Abweichungen von den Originalen nicht so leicht erkennen konnten wie im
griechisch-kleinasiatischen Raum, wo die apostolisch begründeten Gemeinden
weiterexistierten.
Schwerer noch wiegt es, daß gerade in Alexandria und Ägypten besonders viele
Irrlehrer („Häretiker“ von gr. hairesis = Irrlehre, Parteiung, Sekte) und Feinde des
biblischen Glaubens wirkten, die insbesondere von der Gnosis, dem Arianismus und
der griechischen Philosophie beeinflußt waren. Die Gnosis war eine heidnische
Geheimlehre, die auf dämonischen Offenbarungserkenntnissen beruhte und schon
im 1. Jh. in die entstehenden christlichen Gemeinden hineinwirkte (vgl. 1Tim 4,1-5;
1Tim 6,20, wo für „Erkenntnis“ im Gr. gnosis steht; Kolosser 2; 1. Johannesbrief).

Quelle: Bibel-wissen.de