Die Problematik ist weit aus tiefschichtiger als man von außen erkennen kann und dem Allgemeinleser auch nicht all zu gerne offeriert wird.
Unser heutiges N.T. basiert im Wesentlichen auf dem Codex Sinaiticus und dem Codex Vatikanus. Man sollte meinen aus diesen beiden Schriften doch relativ leicht eine gute Zusammenschau über den Textgehalt des. N.T. zu bekommen. Dazu dient auch noch der Codex Alexandrienus als vergleichswert, welcher jedoch ziemliche Textungereimtheiten in sich trägt.
Doch eine nüchterne Analyse zeigt folgenden Sachverhalt. Codex Sinaiticus: Belegt sind heute in diesem Kodex 839 Worthinzufügungen, ersetzt wurden 1.114 Wörter durch Abänderungen. Insgesamt wurden 8.972 Texteingriffe gezählt. Codex Vatikanus: Allein in den Evangelien enthält dieser Codex im Vergleich zu allen anderen Überlieferungschriften 589 Lesarten, die sich nur bei ihm finden. Insgesamt sind belegbar 536 Wörter hinzugefügt worden, wurden 935 Wörter durch andere ersetzt und dadurch die Satzstellung nachträglich verändert. 7.578 Änderungen am Codex Vaticanus kann man heute einwandfrei durch spätere Redakteure belegen.
Obwohl Vatikanus und Sinaiticus als älteste und engste verwandte Schriften gelten, bleibt doch das nüchterne Fazit, dass sich Sinaiticus und Vaticanus allein schon in den Evangelien an 3.036 Stellen widersprechen!!! Auf eine normale Bibelseite umgerechnet entspricht das in etwa 30 widersprechenden Stellen pro Seite!
Die große Frage ist nun, beruhen die doch vehementen Widersprüche durch Texteingriffe, oder auf Grund von verschiedenen Überlieferungsquellen? Hier lässt sich durch die überaus reichliche Überarbeitung an den Texten keine klare Antwort mehr geben. Man muss also auf andere Quellen zurückgreifen, Textfragmente und Papyri, die eventuell Aufschluss über ursprünglichere Lesearten liefern. Doch auch hier trifft uns Ernüchterung, denn kaum eines dieser Bezugsquellen wurde nicht selbst schon in ihrer Zeit überarbeitet. Zwar hat man durch modernste Technik, oft alte Lesearten wieder sichtbar gemacht (Untertext – überschriebener Text), doch wirklich weiter bringt das einen auch nicht.
So muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen, es gibt keinen einzigen gleich lautenden Text zum N.T. der uns überliefert ist. Das ist überaus bedauerlich und macht die ganze Problematik erst deutlich. Denn hier erklärt sich die Textfreiheit, die sich jede theologische Richtung nimmt und berechtigt mit dem Verweis auf Überlieferungsschriften deutet.
Fazit, es gibt deshalb so verschiedene Bibeln, weil es verschieden Überlieferungen gibt, die es einem erlauben auf diese oder jene Schrift zurück zu greifen.
Dazu mal ein ganz kleines Beispiel: Apg. 22/17-18: ….. Es geschah mir aber, als ich zurückkehrte nach Jerusalem und während ich betete im Heiligtum, dass ich in Verzückung geriet und sah redend zu mir: Eile und geh hinaus in Kürze aus Jerusalem, weil sie nicht annehmen werden dein Zeugnis über mich! Apg. 22/17-18: ….. Es geschah mir aber, als ich nach Jerusalem zurückgekehrt war und gerade im Heiligtum betete, dass ich in Entrückung geriet. Und ich sah ihn, und er sagte zu mir: Eil dich und mach, dass du sofort aus Jerusalem hinauskommst. Denn sie werden dein Zeugnis über mich nicht annehmen.
Beides sind Direktübersetzungen, allerdings aus verschiedenen Quellen. Was ist nun wahr und was nicht? Geriet er in eine Verzückung oder in eine Entrückung? Es sind gewaltige Unterschiede! Wer sprach zu Paulus? Ein Text sagt er (auf Jesus bezogen) und diese in eine himmlische Entrückung einbettet, der andere Text spricht von einer unpersönlichen Ansprache, was für eine himmlische Stimme spricht und sehr wohl für eine Verzückung spricht.
Solche Beispiele ziehen sich wie ein rotes Band durch sämtliche Texte und lassen letztendlich den Leser im Unklaren, was nun wirklich geschah. Es erlaubt aber zugleich auch unendlichen Spielraum für theologische Interpretationen und Lehren. Man könnte nämlich sagen Paulus war schon zu Lebzeiten entrückt, deshalb war er Tod für die Sünde! Nur ein Deutungsbeispiel von Vielen.
Die große Frage ist nun, wie geht man mit solchen Texten um? Man muss erst einmal abklären ob Paulus selbst von einer Entrückung spricht? Zum anderen muss man nachfragen, wie kommt es zu solch einer in sich unmöglichen Textvielfalt.
Zu Nestle / Aland:
Auch im heutigen „Nestle-Aland“-Text wird die alexandrinische Überlieferung mit ihrer kleinen Minderheit von Majuskeln eindeutig bevorzugt. In den meisten Fällen wird Sinaiticus, Vaticanus und den alten Papyri zusammen das Übergewicht gegeben. Interessanterweise hat man an einigen Stellen inzwischen Mehrheitstext-Lesarten anerkannt – aber nur, soweit sie sich auch in den alten Majuskeln fanden. Insgesamt lautet das willkürliche Urteil der Textkritik weiterhin: … dass die übergroße Zahl der Handschriftenzeugen aus der byzantinischen Texttradition „für die Arbeit der Textarbeit außer Betracht bleiben“.
Besonders interessant ist zudem, dass Vaticanus eine enge Verwandschaft mit dem älteren Papyrus P75 aufweist und zugleich an vielen Stellen mit Sinaiticus vergleichbar ist, welcher eindeutig eine häretische Schrift ist. Das ist schon sehr erstaunlich will ich meinen und findet jedoch keine Berücksichtigung bei der Quellenanalyse.
Das jedoch gerade die im 20. Jh. entdeckten und wirklich sehr zahlreichen frühen Papyrushandschriften (meist aus dem 2. und 3. Jh.) ganz deutlich im Widerspruch zu Sinaiticus und Vaticanus erscheinen ist bis heute ein Punkt, der von kirchlicher Seite nur wenig Beachtung findet, es sei denn es zeigen sich Textverwandschaften zu den Kodiezes.
Es wird sich eines Tages ganz sicher die Frage stellen, wie lang man sich noch den immer umfassenderen Wissenschaftlichen Erkenntnissen entziehen kann. Und hier insbesondere den Schriften, die selbst von der Kirche als verlässlich eingestuften Schriften (P46, P74, P66, P45, etc.) den Lesern vorenthält mit dem Verweis auf die beiden Kodizies. Den meisten Lesern ist nicht einmal bekannt, was für ein doch fadenscheiniges Kriterium bei der Textbestimmung (was soll in die Bibel und was nicht, was darf Revidiert werden und was nicht) gilt. Dieses Kriterium heißt Theologie und eben nicht historischer Befund. Und so bleiben in den gängigen Bibeln z.B. Maria und Josef weiterhin verlobt, obgleich die meisten der Textzeugen was ganz anderes zu berichten wissen, was auch ein Luther einst richtig übersetzte und dann doch ganz schnell wegrevidiert wurde, aus theologischen Gründen. Man kann sich diesen Dingen stellen, doch man darf sich auf auch auf sehr unangenehme Einsichten einstellen, doch wer will das schon!
(Literaturhinweise und weiter Infos z.B.: Kurt Aland / Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1989, 2. ergänzte und erweiterte Auflage; Frederic G. Kenyon, Der Text der griechischen Bibel, Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht, 1961, 2. Auflage überarbeitet und ergänzt von A.W. Adams; Bruce M. Metzger, Der Text des Neuen Testaments, Einführung in die neutestamentliche Textkritik, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag, 1966)
JohnWilliam Burgon: Unholy Hands on the Bible.
Theodore P. Letis (Hrsg.): The Majority Text: Essays and Reviews in the Continuing Debate.
Karl-Herrmann Kauffmann: Der Text des Neuen Testaments. (26 S.) Manuskriptdruck Albstadt o. J. (Q: Albstadt) [Kurze allgemeinverständliche Einführung in die Frage der Textkritik des NT; mit Tabelle textkritischer Änderungen in verschiedenen deutschen Bibelübersetzungen.]
G. W. Anderson: What today’s Christian needs to know about the Greek New Testament.
Zane C. Hodges/Arthur L. Farstad, The Greek New Testament According to the Majority Text, Nash-ville/Camden/New York (Thomas Nelson) 2. Aufl.
E. W. Fowler, Evaluating Versions of the New Testament, Cedarville (Strait Street Inc.) 2. Aufl. 1986.
Samu
Nachtrag:
Das ist so nicht richtig, da wir eine überaus zahlreiche Quellenlage antiker Texte z.B. Philosophen und Geschichtsschreiber besitzen, die sehr wohl – gerade bei dem Philosophenschriftgut – die Sinnbedeutung von Wörtern in ihrem umgangssprachlichen Gebrauch belegen. Was jedoch Schwierigkeiten verursacht sind die vielen Hebräismen und Aramäismen, welche dann ins griechische und später lateinische Übertragen wurden. Gerade hier ist unglaublich viel Unfug – anders kann man das gar nicht nennen – getrieben worden, was dann dieses Textchaos zur Ursache hat. Ein jeder Übersetzte so gut er eben konnte, wie eine Vielzahl Kirchenväter, den schon damals beklagten Zustand, beschreiben, genau das ist der heutigen Textforschung bekannt und sträflich finde ich es schon, wenn man wieder besseren Wissens z.B. Nestle / Aland eine Textauswahl trifft, welche diesen Sachverhalt durch Harmonieangleichung und dies auch noch im kirchlichen Sinne zu überdecken sucht.Über den einem Wort damals üblicherweise beigelegten Sinn lassen sich oft keine genauen Feststellungen treffen, da meist Vergleichstexte aus jener Zeit - im Hinblick auf die damalige Sprachpraxis - fehlen.
Zum Schluss mal eine Übersicht über den derzeitigen Schriftbesitzstand zum N.T.:
Vorhandene griechische Manuskripte Anzahl der Manuskripte:
Papyri = 109
Unzial-Schriften = 307
Minuskelschriften = 2.860
Lektionare = 2.410
Gesamtzahl: = 5.686
Manuskripte in anderen Sprachen Anzahl der Manuskripte:
Lateinische Vulgata = 10.000
Äthiopische Mss. = 2.000
Slawische Mss. = 4.101
Armenische Mss. = 2.587
Syrische Peschitta = 350
Bohairische Mss. = 100
Arabische Mss. = 75
Altlateinische Mss. = 50
Angelsächsische Mss. = 7
Gotische Mss. = 6
Subachmimische Mss. = 3
Altsyrische Mss. = 2 Persische Mss.
2 Fränkische Mss. = 1
Gesamtzahl: = 19.284 Gesamtzahl aller Mss.: = 24.970
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