Pinchas LAPIDE
Theologe und Religionswissenschaftler (1922-1997)
Österreich / Deutschland
„Ein kurzer Vergleich des Judenbildes der Kirchväter mit dem Jesusbild der tanaitischen Talmudväter ist aufschlussreich. Hier muss zunächst betont werden, dass der Talmud keinen einzigen Hinweis auf Jesus enthält, der sich mit Sicherheit auf den Gründer der Kirche bezieht. Jeschua war ein landläufiger Name, von dessen Trägern allein Flavius Josephus ein rundes Dutzend erwähnt. Nur die außer-kanonischen Baraitha und Tosephta enthalten eine Reihe von Anspielungen, die man mit Sicherheit auf den Nazarener beziehen kann. Was hauptsächlich zur Sprache kommt, sind seine pharisäische Weise der Schriftauslegung, die Tatsache, dass er Jünger hinterließ … Nicht gegen Jesus, sondern gegen die Christologie der Frühkirche war die spätere rabbinische Polemik gerichtet …“
„Jesus, der wie viele Pharisäer seiner Tage sowohl im Tempel als auch in den Synagogen seiner Heimat lehrte, sprach den Pharisäern, trotz tiefschürfender Meinungsverschiedenheiten, nie die Lehrgewalt ab, sondern predigte mit Nachdruck: ‚Alles, was sie (die Pharisäer) euch sagen, das tut und befolgt!’“
„Während eine Gruppe in ihm den von Mosche angekündigten Propheten (5. Mo. 18:15) sah, war er für andere ein vollkommener ‚Gerechter“ (Zaddik), der als einziger die ganze Torah zu halten vermochte … Gemeinsam ist all diesen Jesusbildern die Betonung seiner Torah-Frömmigkeit … und schließlich sein eindeutiges Menschentum, das der umstrittene ‚Menschensohn’-Titel betonen will, der ihn vor jedweder posthumen Verg-ttlichung bewahren sollte.“ [80]
„Alles, was Jesus auf Erden vollbrachte, sagte und unterließ, erschließt nur dann seinen vollen Sinn, wenn man es aus seinem profunden Judesein zu erfassen vermag. Einer, der gar nicht ‚Jesus’ hieß, sondern ‚Jeschua’, der kein Christ war, sondern ein Sohn Israels; der nicht sonntags zur Messe ging, sondern am Schabbat in die Synagoge; der nicht mit ‚Hochwürden’ noch als ‚Herr Pastor’ angesprochen wurde, sondern als ‚Rabbi’; der weder Ostern noch Weihnachten feierte, sondern Pessach, Schawuot und Jom Kippur – kurzum: ein Menschenbruder. … Jesu Menschsein, Judesein und Brudersein – hier liegt der dreifache Neubeginn für ein christlich-jüdisches Glaubensgespräch.“ [81]
„Jesus von Nazareth bleibt die Inkarnation jüdischer Hoffnungskraft und Glaubensstärke, eine Leuchte seines Volkes und ein Lehrer der Menschheit, dem unzählige Menschen ein besseres Leben, ein edleres Streben und ein getrösteteres Sterben zu verdanken haben.“ [82]
„(Ich bin) auf der Suche nach dem … ursprünglichen, vorkirchlichen Jesus, der in den Synagogen Galiläas predigt, der gut rabbinisch mit seinen Lehrkollegen stritt und debattierte, an den Petrus und die Seinen glauben konnten, als Künder, als Prophet und als begnadeter G-ttesmann. … Die einzig mögliche Schlussfolgerung, die sich aus all diesen neutestamentlichen Aussagen ergibt, ist, dass Jesus von Nazareth zeitlebens der Bibel seines Volkes treu und ergeben geblieben ist. … Der neutestamentliche Befund, der anscheinend das bestbewahrte Geheimnis der christlichen Bibelforschung ist, besagt, dass Jesus ein Torah-treuer Jude war und blieb, der nie und nirgend gegen die mosaische Gesetzgebung verstieß.“
„Woran können wir also heute noch die wahre Einstellung Jesu zur Lehre seiner Väter und zur Tradition seines Volkes ablesen? … Seine vertrautesten Jünger und Schüler, die jahrelang seine Lehre aus seinem Munde hörten, … wetteiferten in der Befolgung aller Gesetze und Gebote mit anderen Juden, zollten der Torah Ehrerbietung und verehrten den Tempel, wie alle frommen Söhne Israels ihrer Zeit, als zentrales G-tteshaus. … Eine offensichtliche Treue zur G-tteslehre vom Sinai kennzeichnete die ursprüngliche Jesusbewegung.“ [83]
„Was Jesus selbst betrifft, … so hat die neutestamentliche Forschung in ihrer überwiegenden Mehrheit ihn zum Überwinder zum Zerstörer, zum Abschaffer oder zum Sprenger des Gesetzes umfunktioniert – im krassen Gegensatz zu den ältesten Quellen der Evangelien, die einstimmig bezeugen, was ihm auch Paulus später bescheinigt: dass er nämlich ‚unter dem Gesetz geboren wurde’ (Gal. 3:15) und sein Leben lang ‚ein Diener der Beschneidung’ (Röm. 15:8) war – was auf hebräisch nichts anderes bedeutet als ein torahtreuer Jude. Den letzten Zweifel zerstreut er selbst: ‚Wahrlich ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von der Torah vergehen – bis alles erfüllt ist. Wer nur eines der geringsten Gebote auflöst und so die Menschen lehrt, wird der geringste heißen im Himmelreich. Wer sie aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Reich der Himmel’ (Mt. 5:18). Ich kenne kein klareres, flammenderes Bekenntnis zur Torah und ihrer ewigen Gültigkeit als diese Anfangsworte der Bergpredigt.“ [84]
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80] LAPIDE, ebd.
[81] LAPIDE, Pinchas, „Ist die Bibel richtig übersetzt?“, Gütersloh 1986
[82] LAPIDE, Pinchas, „Warum kommt er nicht?“, Gütersloh 1988
[83] LAPIDE, Pinchas, „Er predigte in ihren Synagogen“, Gütersloh 1980
[84] LAPIDE, Pinchas, „Mit einem Juden die Bibel lesen“, Stuttgart 1982
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