Lieber Raga und Net.Krel,

es kam die Frage bei Eurer Diskussion auf, inwieweit gewisse Torarichtlinien / Gesetze, in Israel zu verschiedenen Epochen gehandhabt wurden.

Wenn wir uns der Toragebung zuwenden, so können wir relativ leicht an diesen 5 Schriftwerken erkennen, wie sich selbst in diesem Schriftgut Wandlungen vollzogen haben.
Erst seit Esra (ca. 445 v. Chr.) ist die Tora zum Grundgesetz der Jüdischen Tradition geworden. Esra, der ha Sofer genannt wurde (Schreiber, Gelehrter), hat in hohem Maße dazu beigetragen, daß die Tora wieder bekannt im Volk Israel wurde. Erst als die Israeliten unter seiner Leitung aus Babylonien nach Jerusalem zurückkehrten (458 v. Chr.) gelang es ihm, die Tora wieder zum Mittelpunkt des jüdischen Lebens zu machen. Davor hatte dieses Schriftgut keine so wesentliche Bedeutung erlangt. Vielmehr war in der Vorzeit das Rechtssystem gängigen Systemen der Großmächte angeglichen unter dessen Herrschaft oder massiven Einfluss Israel auch stand.

Schon die Propheten Israels übten eifrig Kritik an der Praktizierung gewisser Passagen aus diesem Schriftgut und gerieten in aller Regelmäßigkeit mit der Priesterschicht in Konflikte. Gleiches galt auch für die Königshäuser, die sich alle samt der Tora nicht verpflichtet fühlten, wie besonders David und Salomon mehr als deutlich belegen.

Die Tora wurde eben nicht als Gesetzeskodex verstanden, sondern als Richtlinie, Belehrung oder Wegweisung. Aus dieser Sichtweise der „Voresrazeit“ erklärt sich auch die Unterschiedlichkeit innerhalb der Toratexte, die durchaus Neuinterpretationen beinhalteten.

Für die jüdisch-orthodoxe Tradition ist die Tora als ganze das von Gott gegebene Gesetz, das Mose auf dem Berg Sinai offenbart wurde. Das war in frühren Zeiten nicht so. In der Königszeit oder in der Exilszeit beanspruchte man für sich, je nach Gegebenheiten, neue und aktuelle Gesetze zu verfassen.

Diese Tendenz hat sich trotz der Esrareform auch weiterhin fortgesetzt ohne selbst an der Tora redaktionelle Änderungen vorzunehmen. Es entstanden neue und verbindliche schriftliche Werke, die neben der Tora bestehen konnten und doch die Tora außen vor ließen. Für Israel war das kein Widerspruch, sondern ein legitimes Prozedere.

Es zeigte sich schon früh in der Geschichte Israels, daß die Tora dem täglichen Leben nicht mehr angepaßt war. Sie entsprach den veränderten Lebensgewohnheiten und Lebensumständen nicht mehr. Die Wüstenzeiten Israels und die Formung von vielen Volksgruppen zu einem Volk war in sich abgeschlossen und genau auf diese Bedürfnisse zielte in erster Linie (Stammesgesellschaft) die Urtora ab. Angefangen von der Gründung eines eigenen Staatssystems bis hin zur Exilszeit und letztlich im Angesicht der Errungenschaften und Aufklärung in der Antike, war die Tora im täglichen Leben nicht mehr praktizierbar. Dies wurde zum Anlaß für die Entstehung der Mischna (um 200 v. Chr.) und in dessen Folge entstand die Gemara, die zur Vorlage des Tamluds wurde. Mischna und Gamara sind der Talmud.

Auch wenn die Tora als religionsgeschichtliches Dokument der Gründerzeit Israels seinen heiligen Charakter behielt, so hat kein ernsthafter Gelehrter jemals dessen volle Befolgung befürwortet. Vielmehr stand immer ein wesentlicher Punkt im Focus zur Tora, die Betonung der Heiligkeit des Lebens und die Ebenbildlichkeit des Menschen.

Wenn wir uns die Quellenlage zum Thema Todesstrafe im Judentum anschauen finden wir nur dürftige Zeugnisse, hingegen wir zu Liebesgeboten, Shabbatregeln, etc Unmengen an Material sichten können. Dafür gibt es gute Gründe. Die Todesstrafe war schon immer ein ganz leidliches Thema, denn die Tora stellt zum einen das Liebesgebot in ihren Mittelpunkt und zum anderen ist die Todesstrafe der Kontrapunkt. Genau dieses Unbehagen erzeugte schon früh bei Gelehrten und Messiassen (Gesalbten) den Widerstand gegen die Praktizierung dieser Strafe und es sind auch nur wenige Fälle bekannt, die im Nachhall der Religionsgeschichte als ungerechte Urteile gebrandmarkt wurden (Rabbinen). Die Todesstrafe war also kein aktuelles Rechtsmittel, sondern wurde viel mehr als letztes Mittel verstanden und das haben die Rabbinen fast immer als unzulässig bewertet. Es wundert daher nicht, dass die Strafgesetzgebung schon früh eine so hohe Messlatte für ein Todesurteil ansetzte, dass es faktisch unmöglich war jemand zum Tode zu verurteilen, es sei denn, es wäre ein ungerechtes Urteil. Den gibt es nur einen Fürsprecher für den Straftäter, darf kein Todesurteil mehr gefällt werden, ein Gericht das jedoch zu einhelliger Meinung kommt, ist ein befangenes Gericht. Schon nur diese Regel zeigt, wie hinfällig ein Todesurteil werden konnte. Doch schauen wir uns die Hürden genau er an:

Der Nachweis des Vorsatzes musste erbracht werden
Der Nachweis der vorherigen Warnung vor der Tat musste erbracht werden.
Das Wissen des Täters über die Strafbarkeit seiner Handlungen musste durch Zeugen nachgewiesen werden.
Das Geständnis eines Angeklagten gilt nicht als Verurteilungsgrund.
Es mussten mindestens zwei oder mehr Zeugen die Tat bezeugen.
Ein Todesurteil konnte nur durch einen aus 23 Richtern bestehenden Gerichtshof ausgesprochen werden bei einer Stimmenmehrheit von mindestens zwei für die Todesstrafe.
Ein einstimmiges Urteil für die Todesstrafe galt als Zeichen von Voreingenommenheit der Richter und durfte daher nicht vollstreckt werden.
Ein Strafprozess durfte niemals weniger als zwei Tage dauern, damit die Richter vor dem Urteil noch einmal die Sachlage überdenken konnten.

Nach einem ausgesprochenen Todesurteil, z.B. durch Steinigung, waren weitere „Hürden“ eingebaut, die es immer noch verhindern konnten, dass es tatsächlich zur Vollstreckung des Todesurteils kam:


Die Hinrichtungsstätte sollte weit außerhalb der Stadt liegen, so dass noch genügend Zeit war, ein Wiederaufnahmeverfahren zu beantragen.
Der Verurteilte selbst konnte eine Wiederaufnahme beantragen.
Wurde mit dem Vollzug der Todesstrafe tatsächlich begonnen, so bekam der Verurteilte vorher Wein zu trinken, damit er den Schmerz nicht so stark merkte.
Die Richter mussten am Tag der Hinrichtung fasten.
Der erste Belastungszeuge musste den Verurteilten selbst vom Richtplatz hinunter stoßen, so dass sich dieser das Genick brach und starb. Gelang dies nicht, so musste
der zweite Belastungszeuge den ersten Stein werfen, und daraufhin dann die weiteren Angehörigen des Volkes, bis der Verurteilte starb.
Angestrebt war darüber hinaus ein Gottesurteil, indem sich die Vollstrecker Rückwärtig zum Verurteilten stellten, der nicht gebunden werden durfte. Ein solcher Wurf der fast automatisch ins leere gehen musste galt als vollzogenes Urteil.

Das es hingegen auch Lynchjustiz gab die fast immer tödlich endete ist allerdings auch eine traurige Wahrheit.

Es beleibt natürlich die Frage, werden die Gebote dadurch nicht befolgt?
Nein, dass ist nicht so. Es ist eben ein Unterschied die Speisegebote einzuhalten oder anderseits die Todesstrafe zu verhängen.Wenn jemand die Speisegebote nicht einhält, dann kann er jederzeit Teschuwe (Umkehr, bereuen) machen kann, und als gerechter sterben. Ein Mensch, der getötet worden ist, kann dies nicht mehr tun, eine Umkehrmöglichkeit gibt es für ihn nicht mehr. Wer will diese Schuld auf sich laden und wer kann letztendlich von sich sagen Gott wollte es so? Kein Mensch kann das und deshalb nimmt man es auf sich, lieber das Gebot der Barmherzigkeit zu befolgen, als dass Gebot des Tötens.

Der große Vorteil der Tora ist, man kann wählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten und diese Optionen haben die Autoren ganz bewusst offen gelassen. Auch wenn Esra einst die Tora zum Gesetzeskodex erhoben hat, der Begriff Gesetz hat im Judentum schon immer einen ganz eigenen juridischen Bewertungsmaßstab erhalten. Denn eins war allen Rabbinen auch klar, gebotene Liebe in der Tora bedeutet nicht per Gesetz zu Lieben, sondern aus dem Herzen zu lieben und kein Gesetz der Welt kann Liebe erzwingen, sie ist und bleibt ein Akt der Freiwilligkeit aber kein Gesetz der Welt hat Freiwilligkeit als Grundlage, sondern immer ein muß. Wendet man sich also der Tora nach jüdischen Verständnis zu, dann steht da niemals du musst, sondern höchsten du solltest. Das ist der kleine aber feine Unterschied und deshalb war es Israeliten zu allen Zeiten möglich mit der Tora zu leben ohne sie als letztes Wort Gottes zu verstehen, sondern höchstens als erstes Wort aber sicher nicht als letztes Wort. Genau so argumentierte auch Jesus. Die Freiheit der Interpretation wird nicht durch ein Gesetz bestimmt, sondern durch Gotteserkenntnis und diese stand in Israel schon immer über Gesetzen wie die Messiasse und Rabbinen bewiesen und letztlich hat genau dieser Sachverhalt Israels überleben gesichert.

Absalom