Teil 4

Der Gegensatz zwischen Geist und Materie (Fleisch) wurde nicht erst seit den Essenern zu einem wichtigen Thema, sondern gehört bereits in die Vorzeit der klassischen Antike. Allerdings hat sich wohl niemand so intensiv und tiefsinnig dem Thema gestellt wie Plato, der mit dem „Platonismus“ revolutionäre Gedanken in der ganzen antiken Welt exportierte. In der hellenistischen Periode machte dieses Philosophengut auch nicht vor Israel halt und fand bei allen religiösen Gruppen mehr oder weniger Aufnahme. Auch im Pharisäismus und mehr noch im Essenertum wurde die Frage nach dem Widerspruch zwischen Geist und Fleisch gestellt und man bejahte beidseitig diesen. Das führte bei Pharisäern und bei Essenern zu einer gewissen Körperfeindlichkeit, die allerdings bei den Essenern in der Ablehnung der eigenen Körperlichkeit bis hin zu extremen Reinheitssitten führte. Der Körper wurde als schwaches und anfälliges Objekt für die Angriffe Satans empfunden, gegen den man anzukämpfen hat. Der Satz des Paulus: Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach“, ist essenischen Ursprungs. Doch auch Jesus zeigt ganz deutliche essenische Tendenzen in dieser Hinsicht. Das man lieber sein Auge ausreißen solle oder seine Hände abhacken, ist gar nicht so weit hergeholt, wenn man sich entsprechendes essenisches Gedankengut vor Augen hält. Doch auch die Pharisäer standen in dieser Hinsicht sehr nahe den Essenern, allerdings nicht aus dem Hintergrund einer Macht Satans, die es so für diese nicht gab, sondern aus dem Heiligkeitsgedanken heraus (Seid Heilig).
Bei den Essenern gipfelte diese Entwicklung in der Aussage, der Mensch ist grundsätzlich schlecht und dies von Geburt an. Und genau deshalb braucht der Mensch, ja muß sich der Mensch seinem Geistigen Odem bewusst werden und aus dem Geist heraus leben. Erst der Geist befähigt den Menschen seinen Körper in richtiger Art und Weise zu züchtigen und vor allem zu heiligen. Bis hier hin sind sich Stoiker, Platonisten, Pharisäer und Essener in ihrem dualistischen Menschenbild einig. Das ändert sich drastisch dort, wo es um die Praxis der Heiligung und Reinigung geht. Bevorzugen die Platoniker eher eine geistige Schau der Welt und lassen den Körper seinen Anteil dabei, was ebenso Pharisäer in aller Regel taten, so sehen die Stoiker ihre Praxis eher darin, durch eine Art von Selbstkasteiung des Körpers zu geistigen Erkenntnisstufen zu gelangen, was auch die Essener für sich so empfanden. Dazu gehörten nicht nur das regelmäßige Fasten, Armutsgelübde, Bestrafungen und strenge Speisevorschriften, sondern auch heilige Handlungen, wie tägliche zeremonielle Waschungen, Andachtszeiten, heilige Mahle, etc. Einen ganz besonderen Stellenwert hatte die Bußtaufe dabei inne, die nicht nur zum Aufnahmeritual gehörte, sondern die als ritueller Gottesdienst verstanden wurde und in dessen Folge eine Geisttaufe – von Gott gewirkt – dem Sohn / Tochter des Lichtes wurde. Der Mensch wird durch diesen Akt nicht nur Mitglied in der heiligen Gemeinschaft und zum Mystiker Gottes, er wird zugleich auch zum lebendigen Tempel Gottes, ja erst jetzt ist er wirklich in der Gemeinschaft mit Gott, wirklich Sohn / Tochter Gottes. Der „alte“ Mensch muß sterben, er muß seine sterbliche Hülle überwinden können und aus einem neuen Geist leben. Die Taufe der Essener ist nicht nur eine Bußtaufe, die eine Abkehr des Menschen von seinen bisherigen Taten manifestiert, sondern zugleich ein spiritueller und mystischer Akt, an dessen Ende die Empfängnis eines besonderen Heiligen Geistes steht, der den Auserwählten befähigt ein vollwertiger Sohn / Tochter Gottes zu sein. Mit diesem Heiligen Geist ist der Auserwählte in der Lage die wahren Absichten Gottes zu erkennen, die Schriften richtig zu deuten, ein heiliges Leben zu führen, ja der Myste wird eins mit Gott in seinem heiligen Geiste. Der Myste verliert in diesem Akt Gottes seine Ursünde, er wird befreit von der Schuld Adams, er wird gereinigt und geheiligt, er wird in mystischer Art und Weise (geistig) in den Vorzustand paradiesischer Verhältnisse versetzt und die Gemeinschaft mit Gott in einem Neuen Bund begründet, in der der Mensch und Gott eins sind, im heiligen Geiste verbunden und in einer direkten Vaterschaft Gottes zu seinen Auserwählten und Vorherbestimmten. Der Myste ist Gottessohn, von Ewigkeiten vorherbestimmt und neu geboren aus Gottes Geist, er wird durch diesen Akt aus dem Machtbereich Satans ausgelöst, in dessen Gewalt der ganze Rest der Menschheit steht, ja dessen Vater der Rest der Menschheit ist. (1. QS 4/ 18 -22)

Diese Theologie erinnert nicht nur stark an Paulinisches Gedankengut, sondern mehr noch an die Johannischen Schriften und hier insbesondere an die Johannesmonologe aus dem Evangelium, die Jesu in den Mund gelegt werden. Was das Johannesevangelium in seiner theologischen Gesamtheit ausführt kann man im Wesentlichen im essenischen Schriftgut wieder finden und hier ganz besonders den Hintergrund zum Verständnis von der Einheit zwischen Gottessohn und Gott. Erst durch den Einblick in das essenische Schriftgut wird klar, wie stark hier essenische Theologie zum geistigen „Vater“ wurde. Das der Focus im Johannesevangelium personalisiert auf Jesus konzentriert wird ist jedoch mit essenischen Gedankengut nicht vereinbar. Denn bei Essenern gibt es nicht DEN Gottessohn, sondern die Gemeinschaft der Heiligen, der Gottessöhne, der Erwählten und Vorherbestimmten. Der Focus liegt also auf einer Gemeinschaft und nicht auf einen Einzelnen. Allerdings klingt auch im Johannesevangelium noch diese theologische Ursprünglichkeit durch. Beispielhaft kann man hier Kapitel 17 / 9 – 19 anführen, wo wir diesen Gemeinschaftssinn wieder vorfinden. Die Verteuflung der Welt bis hin zu der Aussage, dass Israel als Vater den Satan hat, ja die gesamten johannischen Hassreden sind deutliches Gedankengut aus diesen essenischen Kreisen, die davon ausgehen, dass man entweder zu Gott oder zu Satan gehört.
Selbst der Gedanke der mystischen Widergeburt, der im Johannesschriftgut ganz besonderen Stellenwert einnimmt, findet seine Vorläufer bei den Essenern, die in gleicher Art und Weise diesen mystischen Akt zum eigentlichen Hauptinhalt der Theologie erklären.
Man kommt nicht umhin, dass Johannesevangelium als ein einziges Sammelsurium von philonischen, essenischen und platonischen Gedankengängen zu erfassen, dass aus diesen Quellen eine personalisierte Theologie erschuf, die dann auf den Mysten Jesus gelegt wird, der freilich seine Vorläufer schon in anderen Kultformen fand (Dionysios, Herakles, Mithras, Osiris, etc).
In einem Punkt ist jedoch dieser Mysterienkult mit den Essenern und mit platonischem Gedankengut nicht vereinbar, es ist der Tod eines göttlichen Mysten und dessen Opfergang für die unerlöste Welt. Hier geben insbesondere die Essener einen anderen Ansatz, der darin begründet ist, dass Gott aus Vorherbestimmung erwählt und errettet, und nicht aus einem Opfergang und dessen Glauben daran. Dieser theologische Konflikt ist bisher im Christentum insbesondere durch die paulinische Theologie ungeklärt. Denn wozu bedarf es einer Vorherbestimmung, wenn dann doch durch Opfer diese Vorherbestimmung hinfällig wird? Allein zur Befriedung von Gottes angeblichen Rachegelüsten gegenüber einer unheiligen Menschheit scheint ein Opfergang eines Menschen nur schwerlich vermittelbar zu sein, der zudem Gott als grausames Wesen disqualifiziert, der nur durch Blutopfer Befriedigung finden kann. Die Essener schlossen diesen Gedanken grundsätzlich aus und stellten einen noch viel schlimmeren in den Vordergrund, nämlich die Vorherbestimmung in Gut und Böse und damit zugleich auch ein Wertesystem, dass einen Teil der Menschheit als Verdammt und den anderen als Errettet klassifiziert. Hier finden wir dann folglich auch die Einteilung der Menschheit als Kinder des Lichtes und Kinder der Finsternis, Kinder Gottes und Kinder Satans wieder, die besonders beim Johannesschriftgut anzutreffen ist. Und deutlich muß man hier sagen, es waren erstmals die Essener, die von einem wahren Israel sprachen, dass den Begriff von einem Volk oder einer Nation sprengte und den Focus auf ein geistiges Israel lenkte, dass nicht mehr Volk oder Nation berücksichtigte, sondern allein den Erwählungsgedanken kannte und als das wahre Israel darstellte. Es war nicht das Christentum oder ein Paulus, der diesen Terminus erschuf, es waren die Essener die diese Theologie prägten und damit der Nation Israel und dem Volk Israel indirekt den Sinaibund absprach und als verworfen hinstellte, ja als Volk Satans deklassierte und allen anderen Völkern gleich stellte. Das, dass spätere Christentum und hier zuerst Paulus diese Theologie aufgriff und für seine Bewegung verwendete ist wohl der deutlichste Beleg für die enge geistige Verwandtschaft zwischen Essenern und Christentum, die für sich ganz eigenständige Richtungen waren und lange blieben. Das Paulus von den Essenern diese Theologie übernahm ist hingegen kaum zu leugnen und zeugt von seiner eigentlichen religiösen Herkunft, die ganz sicher nicht im Pharisäismus lag, sondern im Essenertum. Allein an der Person Jesus und dessen theologische Deutung als Opfer scheiden sich die Geister.
Für die Essener ist der Glaubensinhalt, Gott erkauft nicht den Menschen durch besondere Zuwendungen wie Opfer, Gnade oder Barmherzigkeiten, sondern durch Vorherbestimmung sind Menschen zu Gotteskindern bestimmt worden, die durch heilige Handlungen in der Gemeinschaft mit Gott leben. Diese Gemeinschaft beruht einzig auf Gottes Ratschluss von Anbeginn der Welt und ist getragen von Gnadenzuwendungen und Barmherzigkeiten von Seiten Gottes für seine Kinder, da diese in einer satanischen Welt – gefallen Schöpfung - leben müssen. Hier haben diese Kinder einen klaren Auftrag, nämlich gegen die Werke der gefallen Menschheit zu kämpfen, gegen Satan anzukämpfen und den Erwählten den richtigen Weg zu Gott zu weisen und vor allem sich für den „Endkampf“ gegen Satan, die gefallenen Engel und seinen engsten Verbündeten den Antimessias (Antichristen) vorzubreiten. Und damit kommen wir zu einem weiteren Schwerpunkt essenischen Glaubensinhaltes, der Messiasglaube.

Es folgt Teil 5. Messiasglaube, Antichrist und Satansglaube