Die Stoa
Während der hellenistischen Epoche entstanden zu der platonischen und aristotelischen Philosophie alternative philosophische Systeme, von denen zwei sich besonders hervortaten. Dies waren zum einen der Stoizismus und zum anderen der Epikureismus. Beide enthielten Aspekte schon vertrauter Lehren. Neu war jedoch, dass bei ihnen die Ethik in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses trat. Beispielhaft möchte ich nun auf die stoische Philosophie eingehen, da wir dieser insbesondere im neutestamentlichen Schriftgut noch des Öfteren begegnen werden.
Entstehung und Entwicklung der stoischen Philosophie
Gegründet wurde die stoische Schule von Zenon, der 333 oder 332 v.u.Z. in Kition auf der Insel Zypern geboren wurde und um 261 verstarb. Er kam als junger Mann nach Athen, nachdem er Schiffbruch erlitten hatte. Dort schloss er sich dem Kyniker Krates an. Nachdem er ein paar Jahre lang Schüler von Krates gewesen war, machte er sich selbständig. Er versammelte seine Zuhörer in einer mit Bildern geschmückten Säulenhalle. Daher kommt auch der Name dieser Lehre, denn das griechische Wort für Säulenhalle ist "Stoa". Unter seinen Schülern waren auch seine Nachfolger Kleanthes aus Assos (331-232 v.u.Z.) und Chrysippos aus Soloi (281-207 v.u.Z.). Die stoische Lehre veränderte sich ausgehend von dem 3. Jahrhundert v.u.Z. bis zu dem 2. Jahrhundert v.u.Z.sehr. Deshalb unterteilt man den Stoizismus in drei Zeitabschnitte: die alten Stoiker, die mittleren Stoiker und die jüngeren oder römischen Stoiker. Zenon, Kleanthes und Chrisippos bezeichnet man als die alten Stoiker.
Die mittleren Stoiker waren Panaetios und Poseidonios. Panaetios wurde um 185 v.u.Z. auf Rhodos geboren. Mit ihm faßte die stoische Philosophie in Rom Fuß. Denn durch seine Freundschaft mit Scipio Africanus fand er Zugang zu einem Kreis von Intellektuellen, die sich mit besonderer Leidenschaft dem Griechentum widmeten. Ein Schüler Panaetios, Poseidonios, errichtete seine eigene Schule auf Rhodos und war in Rom so berühmt, dass ihn viele bedeutende Persönlichkeiten aufsuchten wie Pompejus und Cicero.
Der jüngere Stoizismus prägte sich vorwiegend in Rom aus. Die Stoiker waren als echte Kosmopoliten bekannt. Sie setzten sich für die Gemeinschaft der Menschen ein, sie sahen den Staat als natürlich an und interessierten sich für Politik. Ihre bevorzugte Staatsform war die Monarchie. Im zweiten Jahrhundert nach Christus gab es unter den Stoikern sogar einen römischen Kaiser: Marc Aurel (121-180n.Chr.). Ebenso gehörten zu den stoischen Philosophen auch der Redner und Politiker Cicero (106-43 v.u.Z.) und der Politiker und als Erzieher Neros bekannte Seneca (4v.Chr.-65n.Chr.). Typisch für die stoische Philosophie war auch ihre Offenheit gegenüber unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Ein Beispiel dafür ist der 50n.Chr. geborene Stoiker Epiktet. Epiktet war ein Sklave. Nach seiner Freilassung gründete er seine eigene stoische Schule und wurde so bekannt, dass selbst Kaiser Hadrian ihn aufsuchte.
Grundgedanken der stoischen Philosophie
Die stoische Philosophie ist eine sehr Praxis bezogene Philosophie. Sie ist darauf ausgerichtet, auch im alltäglichen Leben umgesetzt werden zu können.
In der stoischen Philosophie sind Erkenntnistheorie, Naturphilosophie und Ethik stark miteinander verbunden. Erkenntnistheorie und Naturphilosophie sind aber für die Stoiker nur insoweit von Bedeutung, als aus ihnen die ethischen Grundgesetze abgeleitet werden. In der stoischen Philosophie wird die Natur als Prinzip aller Dinge angesehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Natur einem vernünftigen Weltgesetz - dem Logos - unterliegt. Aus diesem Grund gibt es für den Stoiker keinen Zufall, sondern alles geschieht mit Notwendigkeit und wird von Gott gelenkt. Die Theologie der Stoiker kreist um den Logos: Gott ist die schöpferische Urkraft, die erste Ursache allen Seins. Er ist der Logos, der die vernünftigen Keimkräfte aller Dinge in sich trägt.
Das gestaltende Feuer, der ordnende Logos, wird als Gott bezeichnet. Für die Stoiker ist der Kosmos, der alles Leben und Denken hervorbringt, selbst ein Lebewesen, dessen Seele göttlich ist. Aus der Vernünftigkeit des Logos folgt eine zweckmäßige und planvolle Ordnung der Dinge und Ereignisse: "Daraus ergibt sich der Gedanke einer teleologisch (= zielgerichtet) vollkommen durchgeordneten Welt, in der, der Zusammenhang von allem eine sinnvolle Ordnung darstellt, die von einer einzigen göttlichen Kraft geplant und schrittweise ins Werk gesetzt wird." (M. FORSCHNER)
Die Ethik der Stoiker, durch die diese wohl am bekanntesten geworden sind, setzt eine Reihe von Ansichten über das Seelenleben des Menschen voraus, die eigentlich nicht der Psychologie zuzuordnen sind, sondern die eher den anthropologisch-dogmatischen Unterbau der stoischen Moral darstellen. Demnach ist es nun zunächst eine grundlegende Feststellung, dass der Mensch außer einem Leib auch eine Seele hat. Diese Seele ist es, die zum einen dem Menschen Selbstbewegung und damit überhaupt Leben verleiht. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele erörtert, da zumindest der vernünftige Seelenanteil immer als etwas Ewiges und Göttliches erschien. Aufgrund ihrer Bekennung zum Materialismus muss die Stoa hier jedoch andere Wege gehen. Nach Zenon ist der gröbere Teil der Seelenmaterie vergänglich, wogegen die Vernunft als feinste Materie unsterblich sein soll. Nebenbei gibt es bei Epiktet und Marc Aurel keine individuelle Unsterblichkeit, wogegen Poseidonios die platonischen Beweise für die Unsterblichkeit aufnimmt, was für den in der Stoa teilweise vorliegenden Synkretismus typisch ist, und bei Seneca wiederum die Unsterblichkeit geradezu ein Grunddogma seiner Lehre darstellt: "Nachdem die Seele, sich reinigend und die anhaftenden Fehler und den Schmerz des sterblichen Lebens abschüttelnd, kurze Zeit über uns geweilt hat, erhebt sie sich zu den Höhen des Weltalls und schwebt unter den seligen Geistern. Es hat sie eine heilige Schar aufgenommen.".
Besonders beachtenswert sind in der stoischen Ethik der Naturrechtsbegriff und das damit zusammenhängende Humanitätsideal. Dabei ist das positive Recht, das durch Staaten und Regierungen gesetzt wird, weder das einzige noch das allmächtige Recht. Es beruht in seiner Gültigkeit vielmehr auf einem ungeschriebenen Recht, das ewig ist und das zugleich ein Richtmaß für alles positive Denken überhaupt darstellt, dem Naturrecht, das nichts anderes ist als das allgemeine, mit der Weltvernunft identische Weltgesetz. Die Überzeugung hiervon gehört zu den unerschütterlichen Dogmen der Stoa. Noch Cicero und Philodem sprachen im gleichen Sinn nach, was schon die Gründer der Schule festgelegt hatten: "Das Naturgesetz ist ein göttliches Gesetz und besitzt als solches die Macht, zu regeln, was Recht ist und was Unrecht."; ähnlich äußert sich auch Chrysipp: "Ein und dasselbe nennen wir Zeus, die gemeinsame Natur von allem, Schicksal, Notwendigkeit; und das ist auch die Gerechtigkeit und das Recht, die Einheit und der Friede.", sowie Heraklit: "Es nähren sich alle menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen.", und ebenso gehören Platon mit seiner Ideenwelt und Aristoteles in diese Reihe. Dabei ist der Stoiker der Ansicht, daß das Naturrecht von selbst einleuchtet, weil es mit der Vernunft als solcher gegeben ist. Wer diese nur hat, hat damit auch schon ein Wissen bzw. Gewissen über das, was Recht ist und was nicht; "Wem von Natur aus Vernunft zuteil wurde, dem wurde auch die rechte Vernunft zuteil; darum auch das Gesetz... und wenn das Gesetz, dann auch das Recht.".
Der Stoiker ist ein Realist und weiß als solcher, dass es im Leben auf das kraftvolle Zugreifen und auf entschlossenes Handeln ankommt; "sustine et abstine" ("Ertrage und entsage") lautet deshalb das Motto der gesamten Tugendlehre, die hauptsächlich auf den Willen ausgerichtet ist. In stärkster Gegnerschaft zu Aristoteles und seiner Schule werden die so genannten äußeren Güter wie Ehre, Besitz, Gesundheit, ja selbst das Leben als gleichgültige Dinge behandelt. Das einzige Übel ist die Schlechtigkeit das einzige Gut die Tugend. Der Weise allein ist frei, reich, glücklich, ja den Göttern gleich, der Tor dagegen elend und unwissend.
Lust, Begierde und Furcht, gelten als unvernünftige Regungen, ja als Krankheiten der Seele, welche zu bekämpfen sind. Den Affekten im Sinn der Leidenschaft stehen die edlen Affekte gegenüber: der Begierde der rechte Wille, der entweder Wohlwollen oder Zufriedenheit ist; der Furcht die Vorsicht, die sich in Ehrfurcht und Keuschheit gliedert; der Lust die reine Freude, die aus dem Bewusstsein des tugendhaften Lebens erwächst. Hier wird besonders deutlich, wie sehr die stoische Psychologie von ethischen Interessen geleitet wird, zumal diese förmlich als Tugendlehre auftritt.
Die Stoa zeichnet sich zudem durch seinen Kosmopolitismus aus. So erklärte bereits Epiktet: "Wir sind alle Brüder und haben in gleicher Weise Gott zum Vater.".
Als Kosmopolit ist das Vaterland des Stoikers die ganze Welt, weshalb ihre Anhänger zur allgemeinen Menschenliebe, Wohltätigkeit, Milde und Sanftmut aufrufen. Auch gegenüber anderen Völkern, den Sklaven, den Frauen und den unmündigen Kindern, die ursprünglich durch das römische Recht stark benachteiligt waren, wird die Forderung der Rechtsgleichheit erhoben. Rechtsgleichheit bedeutet jedoch für den Stoiker nicht auch Standesgleichheit! Für den Stoiker sind vor allem Frauen Mittel zum Zweck (Familie) und finden ihre Berechtigung als Lebensschaffende Wesen, dessen Platz nicht in Philosophenstuben zu sein hat, sondern schweigend und verhüllend am heimischen Herd oder in der Kinderstube. Das Züchtigen von Frauen und Kindern gilt als legitimes Mittel für die Sittlichkeitserziehung der Stoiker. Ausgeführt in Milde und Sanftmut wird Züchtigung als natürliche Gegebenheit angesehen.
Als weiteres wichtiges Element ist noch die stoische Logik, welche sich in die Bereiche Rhetorik und Dialektik gliedert. Um die Sprachlehre haben sich die Stoiker große Verdienste erworben. Von ihnen rühren zum großen Teil die üblichen grammatischen Bezeichnungen.
Soviel erst einmal zu einem klassischen Beispiel von Philosophie im Hellenismus, welche sich insbesondere im römischen Reich zu einer neuen Blüte entwickelte.
Philosophie war nicht nur ein Denkmodel, sondern im täglichen Leben praktizierte Lebensphilosophie, die in sich ganz wesentlich auch religiöse Wesenzüge trug.
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