Feindeshass um der Gottesliebe willen? Essenisches Feindesverständnis und frühchristliche Nächstenliebe.

Teil 1 Nächstenliebe im Judentum

Das Judentum der Zeit Jesu war ohne Zweifel eine moralische Religion, in der die Prinzipien von Gerechtigkeit und Wertigkeit im Mittelpunkt stehen. Die Formaljuristische Toragebung hatte nie wirklich Fuß in Israel fassen können und dies ist ein großer Verdienst der Prophetenbewegungen gewesen, die immer wieder aufs Neue, juridische Vorgaben durch den Hinweis auf moralische Werte wie Barmherzigkeit, Liebe, Rechtschaffenheit, Nächstenliebe, etc, abschwächten. Die vereinfachte Toraauffassung von "Guten" und "Bösen" (Menschen) fand besonders in der Zeit der frühen Tannaiten heftigen Diskussionsstoff und führte letztlich und mehrheitlich zu der Auffassung, dass einzig Gott ein Rechtschaffender Gott sein kann, also nur Gott der Richter sein kann, der Recht schafft. Hier ist Recht allerdings nicht nur als juristischer Begriff verstanden, sondern hier umfasst der Begriff Recht auch den moralischen Wert, der Barmherzigkeit und Liebe umfasst. Diesen Ansatz, den schon die Propheten hervorhoben (Gott schaut auf das Herz und nicht nur auf die Taten) verfolgten die Tannaiten weiter und gipfelte in dem Satz des Rabbi Chanina: Gott spricht: Wenn du deinen Nächsten hasst, weil er so böse ist wie du, werde ich es dir vergelten. Liebst du ihn aber, weil er so gut ist wie du, so werde ich mich deiner erbarmen. (Abot de Rabbi Nathan II, 26) Noch weiter geht Rabbi Nathan selbst, indem er erklärt: Jeder, der seinen Nächsten hasst (auch mit Worten), der entwurzelt Gott aus der Welt. Abot des Rabbi Nathan. 30

Die Große Frage, warum es dem „Bösen“ oft gut geht und dem „Gerechten“ oft schlecht geht konnte die Tora nicht lösen, da sie eigentlich einen ganz gegensätzlichen Ansatz in sich trägt (Wähle zwischen Leben oder Tod…). Der moralische und ethische Ansatz musste also neu bewertet werden und ein neuer sittlicher Imperativ gefunden werden. Hier setzten bereits die Klagelieder und Psalmen an und die Propheten führten diesen weiter, indem das Leiden des „Gerechten“ als Folge auch seiner Loslösung von Gott verstanden wurde. Der „Gerechte“ ist nie so Gerecht wie Gott, er ist fehlbar wie der scheinbar „Böse“ und steht dem „Bösen“ gar nicht so weit entfernt. Damit verschwimmt die Grenze zwischen den scheinbar „Guten“ und „Bösen“ und genau darauf zielt Rabbi Chaninas Spruch ab. Hierin gipfelt letztlich auch Jesu Lehrsatz: Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird auch euch euer himmlischer Vater vergeben… (Mt. 6/ 14 – 15) Diese Aussage Jesu (vgl auch Lk. 6/ 37 – 38), die bereits der Weisheitslehrer ben Sirach (um 185 v. Chr.) vorgab (J.S. 27/ 30 – 28/ 7) zeigt deutlich, dass es im damaligen Judentum weniger um die Frage ging, wer ist gerecht und wer ist ungerecht, sondern, wie können wir rechtschaffen zu Gott hin leben. Rabbi Hillel sagte dazu: Richte nicht deinen Nächsten, bis du nicht an seine Stelle gekommen bist.

Dieser sittliche Imperativ, der von den Propheten, Weisheitslehrern bis hin zu den Rabbinen erörtert wurde zeigte einen ganz neuen Aspekt zur Tora auf, nicht mehr der kultische Inhalt (Kultpraxis) findet seine Gewichtung, sondern die moralischen Werte werden hervorgehoben, wo nötig differenziert und neu bewertet oder gar verworfen. Rabbi Hillel fasst dies folgendermaßen ganz lapidar zusammen: „Was dir unlieb ist, tue dem Nächsten nicht; das ist das ganze Gesetz, das übrige ist Ausführung. Jesus fasst diesen Spruch Hillels auf und spricht in ähnlicher Weise: „Und so wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut ihr ihnen.“ (LQ) oder: „Alles nun, was ihr wollt dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen; denn das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Mt. 7/12)

Die sittliche Lehre Jesu findet sein Fundament in den genannten Entwicklungen innerhalb des Judentums. Nicht mehr aus „Furcht“ vor Strafe wird Gott gedient, sondern aus unbedingter Liebe und dies legt das Doppelliebesgebot der Tora auch nahe. Dass darin Schriftgelehrte Israels zustimmten zeigt ebenso Markus (12 / 28 – 34) und Lukas (10 / 25 – 28), etc.

Dass diese Neuinterpretation auf das Leben Israels – und hier auch auf das kultische Leben - ganz massiven Einfluß hatte können wir z.B. an folgender Geschichte sehen: „Jochanan ben Sakkai war unterwegs, als sein Schüler Josua ihn ereilte und ansprach mit den Worten: Wehe uns, daß der Tempel gefallen ist, das Gebäude unseres Lebens, die Opferstätte, durch die wir immer entsühnt wurden! Der Meister erwiderte: Es sei dir nicht leid; ein anderes Sühnemittel ist uns dafür zuteil geworden. Der Schüler fragte: Welches? Und Jochanan ben Sakkai antwortete: Ich meine das Wohltun, wie auch der Prophet gesagt hat: "Gütigkeit heische ich, nicht Opfer." (Awot de-Rabbi Nathan I,4)
Die Berglehre Jesu fußt genau auf diesen Grundsatz, der nicht kultisches Verhalten in den Vordergrund stellt, sondern den Menschen in seinem Dasein vor Gott und seinen Mitmenschen. Dieser Grundsatz lässt Feindesliebe nicht außen vor, sondern schließt sie ein, wie sie schon in der Tora vorgegeben ist. Allerdings kennt auch Jesu Feindesliebe Grenzen, die dann erreicht sind, wenn Ungerechtigkeit, Übel und religiöse Ansichten bekämpft werden müssen. Hier ist er nicht nur ein gewalt-iger Redner, sondern auch gewalt-iger Täter. Jesus lässt es nicht an Gesten, Worten und Taten gegenüber vermeintlicher Feinde fehlen. Ob gegenüber einer gewissen jüdischen Religionselite (Sadduzäer und Pharisäer), nichtisrealitischen Mitbewohnern des Landes Israel, Besatzern (Römer), Despoten (Herodes) und wohl am meisten gegenüber den Essenern, gleich wohl diese namentlich nicht im N.T. zu finden sind, wohl aber ihre ganz besonderen Lehren.

Wenn man sich die Sprachgewalt Jesu einmal vor Augen führt und hier ist es Ratsam sich dem Mischnaisch der Zeit Jesu zu vergegenwärtigen, die erst die Sinnbedeutung deutlich klar macht, dann wird dem Bild von der Feindesliebe Jesu eine jähe Ernüchterung zuteil. Wenn man allerdings diese Reden dem Lehrgut anderer Rabbinen der Zeit Jesu gegenüber stellt, so finden wir einen Begriffsterminus, der landesüblich und sehr volksnah war. Dazu gehört ebenso, dass Heiden als Hunde und Schweine bezeichnet wurden, wie die überaus abfällige Gestik, gegenüber besagten Nichtjuden, die auch im N.T. erhalten blieb. Die Geschichte vom Knecht des römischen Centurio ist dafür ein überaus klarer Beleg. (Auf Wunsch können wir uns gerne diese Geschichte exegetisch genauer anschauen, um besagtes einmal deutlich zu machen.)

Das Judentum der Zeit Jesu verstand in seiner großen Mehrheit die Fremden des Gottes Israels nicht als Nächste, sondern als Mitmenschen. Nächste waren die Stammesbrüder eines Volkes. Für Jesus waren die Nächsten, die verlorenen Schafe des Hauses Israels, zu denen er sich ausschließlich gesandt fühlte. Diese Tatsache bestätigt auch Paulus z.B. Römer 15/ 8 „Denn, das sage ich, Christus ist um der Wahrhaftigkeit Gottes willen Diener der Beschnittenen geworden, damit die Verheißungen an die Väter bestätigt werden.“ Diese sind Jesu Nächste und ihnen gelten seine ganze Leidenschaft, ja sein Wohlwollen aber auch sein Zurechtweisen, seine Scheltreden, Gewalttaten und fürsorgliche Liebe. Das Jesus die Heiden als Verachtungswürdig ansieht ist ein Relikt aus seinem israelitischen Selbstverständnis (Heiden sind Götzendiener) und aus seinem Missionsgedanken. Hier ist er seinen jüdischen Zeitgenossen ganz Israelit. Allerdings haben andere Rabbinen nicht so krass auf Heiden reagiert, wie es Jesus bei der kanaanitischen Frau oder bei dem römischen Offizier tat. Ein Beispiel sei dazu hier exemplarisch angeführt, das beide Einstellungen im damaligen Israel aufzeigt: „Einst wurde ein schiffbrüchiger Römer in der Zeit des schlimmsten Römerjochs über Israel, nackt an das Ufer des Landes Israel gespült. Er verbarg sich unter Felsen und rief von dort aus einer Gruppe jüdischer Festpilger zu: Ich bin ein Nachkomme Esaus, eures Bruders. Gebt mit etwas Kleidung, meine Blöße zu bedecken, denn das Meer hat mich entblößt, und ich habe nichts retten können! Sie antworteten ihm: Möge dein ganzes Volk entblößt werden! Da erhob der Römer seine Augen, sah Rabbi Elasar, der unter ihnen ging, und rief: Ich sehe, dass du ein alter und von deinem Volk geehrter Mann bist, der den Geschöpfen gebührende Achtung zollt, so hilf mit doch! Rabbi Elasar ben Schummua besaß sieben Gewänder. Er nahm eines davon und gab es ihm. Auch führte er ihn in sein Haus, versorgte ihn mit Essen und Trinken, gab ihm 200 Denare, geleitete ihn vierzehn Meilen weit und erwies ihm große Ehre, bis er ihn zu seinem Haus gebracht hatte. (Midrasch Eccl. Rabba 11/1)“

Letztlich muß Jesus beiden nicht helfen, denn ihr Glaube an Gott hat ihnen geholfen und nicht das direkte Eingreifen Jesu. Damit bezeugt Jesus aber ebenso eine grundsätzliche Überzeugung, zum Gott Israels kann ein jeder Mensch kommen. Der Fremde, der sich zu dem Gott Israels wendet, ist dann nicht mehr der Fremde, sondern wird zum Nächsten und genau hier greift Dtn. 10,19. Der Fremdling, der sich im Lande Israels aufhält und Hilfe bei dir sucht, den weise nicht ab. Die Eindringlinge, die sich gewaltsam in Israel aufhielten (Besatzungsmacht) und versuchten Israel von den Wegen Gottes fern zu halten wurden als Feinde angesehen und nicht als Fremdlinge. Fremdlinge waren Menschen, die fern ab des Gottes Israels glaubten und die sich friedlich das Land mit Israeliten teilten. Die Kontakte zu solchen Volksgruppen wurden aber in aller Regel gemieden.

Es folgt Teil 2