Bekanntlich sind das zwei unterschiedliche Lehren, die von Jesus und die von Paulus. Wohl deshalb sind in der Schweiz über 250 zerspaltene christliche Kirchen Freikirchen und Sondergruppen, weil jede einen Vers aus der neuen Testament herauspickt, wie bei einem Kochbuch ein Rezept.

Wie Paulus die Lehre des Jesus veränderte

Die ersten urchristlichen Gemeinden wurden nach dem Zeugnis der Bibel von Gott bzw. Christus unmittelbar durch das "Prophetische Wort" geführt (vgl. z. B. Johannes 16, 13; Apostelgeschichte 2, 17-18; 1. Korinther 12, 28). Demnach sprach Christus aus der geistigen Welt durch Prophetenmund zu den Menschen, und nach der Erzählung in der Apostelgeschichte war die "Menge der Gläubigen" "ein Herz und eine Seele" (4, 32). "Sie blieben beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet" (Apostelgeschichte 2, 42), sie taten Gutes an ihren Nächsten "und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk" (Apostelgeschichte 2, 47). In dieser Zeit kam Saulus, später Paulus genannt, hinzu und gab offenbar den ersten größeren Anlass für Unstimmigkeiten ...
Saulus aus Tarsus in Kleinasien (weitgehend identisch mit der heutigen Türkei) ist als jüdischer Pharisäer ein erbitterter Gegner von Jesus von Nazareth und verfolgt die urchristliche Gemeinde. Dann erfolgt ein Einschnitt in seinem Leben: In einer Vision glaubt er eines Tages, die Stimme des Mannes aus Nazareth zu hören, und er glaubt auch, ihn zu sehen. Unmittelbar im Anschluss daran wird der urchristliche Prophet Hananias zu ihm geschickt, um Saulus seinen neuen Auftrag zu übermitteln (Apostelgeschichte 9, 10 ff.). Nach diesen Erlebnissen ist Paulus davon überzeugt, dass Jesus in der Tat der "Christus" war, das heißt, der Gesandte Gottes, der Israel verheißene Befreier bzw. Erlöser. Saulus orientiert sich um. In Zukunft will er für ihn kämpfen, nicht mehr gegen ihn - so wie es ihm durch das Prophetische Wort mitgeteilt wird (9, 15).
Doch anstatt sich für seinen großen Auftrag von der Urgemeinde zurüsten zu lassen, ist er von Anfang an nicht bereit, sich in die bestehende Gemeinschaft einzuordnen. Er betont sogar, dass er sich nach seiner Umkehr nicht mit den anderen Urchristen besprach. Erst nach drei Jahren besucht er nach seinen eigenen Angaben für zwei Wochen Petrus und reist anschließend wieder durch die Lande (Galaterbrief 1, 16-18). Wörtlich schreibt er unter anderem: "Ich ... ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte wieder zurück nach Damaskus". Stattdessen beginnt er aus eigenem Entschluss mit dem Predigen. Damit widerspricht Paulus selbst der offenbar idealisierenden Darstellung seiner Bekehrung in der Apostelgeschichte, wonach er sich sogleich zu den Jüngern in Damaskus und Jerusalem gehalten habe. (1) Dies tat er nicht.
Und schon bald stellt sich heraus, dass Paulus die christliche Lehre mit seinen römischen Vorstellungen vermischt (siehe dazu die weiteren Ausführungen, z. B. hier). Deshalb kommt es dort, wo er bei seinen Reisen bereits urchristliche Gruppen vorfindet, zu Unstimmigkeiten und Konflikten (siehe unten). Paulus lässt sich jedoch nichts sagen und sich nicht korrigieren. Im Gegenteil: Als es erst nach 14 Jahren (!) zu ersten offiziellen Gesprächen mit den Hauptverantwortlichen der urchristlichen Bewegung kommt, weist Paulus seinerseits Petrus heftig zurecht und "widerstand ihm ins Angesicht", wie er es laut Bibel selber schreibt (Galaterbrief 2). Der Streit mit Petrus, den Paulus offen der Heuchelei bezichtigt, entzündet sich an den jüdischen Wurzeln des Urchristentums und unter anderem auch an der Frage nach dem urchristlichen Mahl (Näheres dazu im Teil 2). Doch die Unterschiede zwischen Paulus einerseits und den "Aposteln" (den von Jesus selbst eingesetzten Hauptverantwortlichen für sein Werk) und Jesus von Nazareth andererseits sind noch viel weit reichender ...
Kein Interesse an Jesus
Während die Apostel noch von Jesus direkt belehrt und geschult wurden, kannte Paulus Jesus nicht. Stattdessen hatte er ausgerechnet die pharisäische Schulung der Gegner des Mannes aus Nazareth genossen. Doch anstatt sich so viel wie möglich von Jesus berichten zu lassen und sich so weit wie möglich an ihm als Vorbild zu orientieren, erklärt Paulus sein Defizit einfach als belanglos. Und er schreibt selbstbewusst: "Auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch [auf die anderen Apostel bezogen], so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr" (2. Korintherbrief 5, 16). Dieser Satz wäre gar nicht unbedingt falsch, wenn das von Paulus so genannte heutige "Kennen" von Christus mit dem übereinstimmt, was Jesus von Nazareth einst als Mensch seinen Zeitgenossen gelehrt und ihnen vorgelebt hatte. Doch woher will Paulus wissen, ob der "Christus" aus seiner Vision und in seiner Vorstellung mit dem Christus übereinstimmt, der in Jesus von Nazareth unter den Menschen lebte? Paulus kannte ihn ja gar nicht als Mensch, und er hätte als ein wahrer Nachfolger von Jesus alles daran setzen müssen, so viel wie nur irgendwie möglich von ihm und seiner Zeit auf der Erde zu seiner eigenen Orientierung in Erfahrung zu bringen: Was hat Jesus in dieser Situation gesagt? Wie hat er hier reagiert? Gibt es von ihm eine Aussage zu dieser Problematik? Usw. usf. Doch das tat er offenbar nicht. Und so wirft ihm der Philosoph Friedrich Nietzsche auch mit gutem Grund vor, Jesus, der Christus, scheine bei ihm nur mehr "ein bloßes Motiv" zu sein, eine "metaphysische Figur, der man alles unterschieben konnte".
Und in der Tat: Anstatt zu fragen, was Jesus gelehrt hat, deutet Paulus das Leben von Jesus vor allem nach dem Muster heidnischer Mysterienreligionen und des Kaiserkults, wo von sterbenden und wieder auferstehenden Göttern die Rede ist, an denen der Gläubige durch Identifikation bzw. durch magische Übungen Anteil haben könne. Gleichermaßen knüpft er an den jüdischen Opferkult an und interpretiert ihn neu: Während strenggläubige Juden durch Tieropfer einen angeblichen Zorn Gottes besänftigen wollen, erklärt Paulus kurzerhand, dass das Blut, das Jesus bei seiner Hinrichtung vergossen hatte, bei Gott angeblich ein für alle mal sühnende Wirkung hätte (Römerbrief 3, 25), so dass es keiner Tieropfer mehr bedürfe.
Die Umdeutung
Zwar war auch Jesus ein Gegner der Tieropfer. Doch im Unterschied zu Paulus hatte er einen Gott verkündet, der überhaupt kein "Sühnopfer" benötigt und nie ein solches Opfer benötigt hatte. (2) Stattdessen wünscht der Gott, den Jesus verkündet, dass alle Seine Kinder Ihm ihr Herz öffnen, Schritt für Schritt ihr Ego "opfern" und für ihren Nächsten da sind. Paulus hingegen kehrt wieder zurück zu den alten vorchristlichen Gottesvorstellungen der Menschen (Gotteszorn, Sühnopfer) und deutet diese nur auf Christus hin um. Der Höhepunkt seiner Umdeutung besteht schließlich darin, dass man durch den bloßen Glauben an ein solches Sühnopfer "gerecht" werden könne - also "ohne Verdienst", d. h. ohne das rechte Tun. Dies ist eine wesentliche Botschaft des Paulus, und es war eine angenehme Botschaft für das Volk, weil auf diese Weise eine hohe Ethik und Moral zwar wünschenswert, aber letztlich entbehrlich war. Mit dem unbequemen Jesus von Nazareth hatte das jedoch nichts mehr zu tun. Denn Jesus lehrte das Halten der Zehn Gebote und der Bergpredigt, und er sagte immer wieder: "Tu das, so wirst du leben" (Lukas 10, 27). Oder: In das Reich Gottes kommen, "die den Willen tun meines Vaters im Himmel" (Matthäus 7, 21). Oder: Wer seine Rede "tut", "der gleicht einem klugen Mann" (Matthäus 7, 24). Oder: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten" (Matthäus 7, 12). Oder: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das hat ihr mir getan (Matthäus 25, 40; siehe auch V. 25). Und vieles mehr. Paulus spricht dagegen vom "Glauben", der einen Menschen "gerecht" mache (vor allem im Römerbrief, Kapitel 3 und 4).

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