Der Strohstern
In meiner Schatzkiste liegt ein filigraner Strohstern. Eine Freundin schenkte ihn mir. Vor einigen Jahren hatten sie und ihr Mann uns für die Weihnachtstage zu sich eingeladen. Sie bewohnten ein altes Bauernhaus. Die umliegenden Ländereien waren verpachtet. Die Stallgebäude nutzten sie beruflich. Meine Freundin arbeitete als Handweberin und benötigte für ihre Webstühle viel Platz.
Das Haus lag am Rand eines Moorgebietes. Hier war es flach. In den langen kalten Herbst- und Wintermonaten fegte oft tagelang ein Sturm über die Weiten. Auch am Heiligen Abend wehte ein eisiger Wind und brachte ein paar Schneeflocken mit. Als wir nachmittags mit unseren beiden Kindern auf den Hof fuhren, wurden wir stürmisch von der Haushündin und ihrem Welpen begrüßt. Unsere Freunde umarmten uns, und wir warfen ihre zwei kleinen Töchter in die Höhe. Diese liebten das sehr.
Auf der riesigen Deele stand ein großer Tannenbaum. In der offenen Feuerstelle brannten Holzscheite. Am langen Tisch saßen bereits gemeinsame Freunde, eine Familie mit ihren drei Kindern. Sie eilten auf uns zu. Herzlicher konnten wir nicht begrüßt werden.
Bald gingen wir Frauen in die Küche, die von einem großen AGA-Herd erwärmt wurde. Weil meine Freundin aus Schottland stammte, hatte sie bei ihrer Heirat auf diesen Herd bestanden. „Etwas Englisches muss ins Haus,“ meinte sie damals. Ihre Schwiegermutter war bereits mit der Fertigung von Kartoffelknödeln beschäftigt. Gänsebratenduft drang aus dem Ofen. Der Schwiegervater kümmerte sich um die Getränke. Wir waren zu Gast in einer Großfamilie voller Toleranz und gegenseitiger Liebe.
Ich hatte den sieben Kindern versprochen, für sie Pizzen zu backen und Vanillesoße zum Apfelmus zu kochen. Wie gut, dass der AGA-Herd mehrere Backröhren besaß. Ich knetete den Hefeteig, dass mir die Wangen glühten.
Die Bescherung fand vor dem Abendessen statt. Die Kinder krochen unter den Christbaum, entdeckten ihre Päckchen und jubelten vor Freude. Wir Großen beschenkten uns nicht. Einander lasen wir Gedichte vor oder sangen Lieder, von denen wir wussten, dass unsere Freunde sie liebten. Für mich erklang das Lied: „Die Nacht ist vorgedrungen“ mit Posaunenbegleitung.
Nach dem üppigen Weihnachtsmahl verschwand die Kinderschar. Unser Gastgeber verließ ebenfalls das Haus mit der Bemerkung, die Hunde hätten Auslauf nötig. Nach einer Weile kam er zurück und bat: „Zieht eure Mäntel an. Ich möchte euch etwas zeigen.“ Er führte uns zu einem Stall abseits der Hofgebäude. Matter Lichtschein drang durch die Ritzen der Holzwände. Die Tür wurde geöffnet, und im Schein von Stalllaternen erkannten wir die Kinder. „Maria“ und „Josef“ standen neben der Krippe und versuchten, das zappelnde, jaulende Wesen darin zu bändigen. Der Labradorwelpe war mit der Rolle des Jesuskindes überhaupt nicht einverstanden.
Es waren zwei Hirten im Raum und drei Weise aus dem Morgenland. Jedes Kind spielte eine Rolle. Auch die große Hündin wirkte mit. Sie musste ein Schaf darstellen. Die Weihnachtsgeschichte wurde vorgelesen und „Ihr Kinderlein kommet“ gesungen. Meine Freundin sprach ein Gebet, worin sie Gott für den wunderschönen Weihnachtsabend dankte und um Segen für alle bat.
Den Heiligen Abend beendeten wir in den frühen Morgenstunden. Nachdem die Kinder in ihren Betten lagen, begann das große Erzählen. Wir sahen uns nicht oft und genossen das Zusammensein. Jemand spielte Weihnachtsmelodien auf dem Klavier.
Der erste Weihnachtstag begann mit einem großen Frühstück. Jeder half bei der Zubereitung der Speisen. Anschließend machten wir uns auf den Weg ins Moor. Unter vielen Ermahnungen, nur auf den festen Wegen zu bleiben, liefen die Kinder voraus, gefolgt von den beiden Hunden.
Am nächsten Tag fuhren wir nach Hause. Zum Abschied überreichte uns meine Freundin einen Strohstern. Mit guten Wünschen versehen und gestärkt durch feste Umarmungen bestiegen wir unser Auto und verließen den Hof. Eines der schönsten Weihnachtsfeste lag hinter uns.
Kira
Liebe Balkonies, das ist die Geschichte unseres Strohsterns. Ich lege ihn zurück in meine Schatzkiste. Am Heiligen Abend wird er mit vielen goldenen und pinkfarbenen Kugeln unseren Christbaum schmücken.