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Der wilde Apfelbaum
In den hohlen Stamm eines wilden Apfelbaumes ließ sich ein Schwarm Bienen nieder. Sie füllten ihn mit den Schätzen ihres Honigs, und der Baum ward so stolz darauf, dass er alle andere Bäume gegen sich verachtete.
Da rief ihm ein Rosenstock zu: "Elender Stolz auf geliehene Süßigkeiten! Ist deine Frucht darum weniger herbe? In diese treibe den Honig herauf, wenn du es vermagst, und dann erst wird der Mensch dich segnen!"
Gotthold Ephraim Lessing
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"Die Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern, sagte Meister Komm,
"ist so, daß es einfach ihrem Gebot folgt, in welche Richtung die Eltern es auch schicken mögen.
Die Beziehung eines Menschen zu Yin und Yang ist nicht weniger bedeutsam als die eines Kindes
zu seinen Eltern.
Wenn sie mich drängen zu sterben, dann wäre es ungezogen, mich dem zu widersetzen.
Ist es denn ihre Schuld ?
Der große Klumpen belädt mich mit Form, bringt mich dazu, mich durchs Leben zu mühen,
besänftigt mich im Alter und läßt mich im Tod ausruhen.
Das also, was mein Leben gut macht, ist auch das, was meinen Tod gut macht.
Wenn der große Gießer sein Metall in die Form gießt, und das Metall wollte aufspritzen und sagen:
"Du mußt aber das Zauberschwert aus mir machen", dann würde der Große Gießer es sicherlich für
ein untaugliches Metall halten.
Würde ich, der ich zufällig menschliche Form angenommen habe, nun sagen:
"Mensch ! Ich muß ein Mensch bleiben !", dann würde der Große Verwandelnde Schöpfer mich sicherlich
für einen untauglichen Menschen halten.
Wenn ich also erst einmal Himmel und Erde als die Große Schmiede akzeptiert habe
und den Verwandelnden Schöpfer als den Großen Gießer, dann bin ich bereit hinzugehen,
wohin sie mich auch senden mögen."
aus Zhuangzi, Reclam
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Onkelchen Zerfallen und Onkelchen Glitschig
betrachteten die Grabhügel des Grafen der Dunkelheit
in der Leere von Kunlun, wo der Gelbe Kaiser seine Ruhe
gefunden hatte.
Plötzlich begann eine Weide aus dem linken Ellenbogen
von Onkelchen Glitschig zu sprießen.
Er sah überrascht aus, so als sei ihm das nicht recht.
"Ist es dir arg?" fragte Onkelchen Zerfallen.
"Nein", antwortete Onkelchen Glitschig,
"warum sollte es mir arg sein ?
Unser Leben ist nichts als ein ausgeliehender Vorwand.
Was wir ausborgen, um unser Leben zu unterhalten,
ist nicht mehr als eine Handvoll Staub.
Leben und Tod wechseln einander ab wie Tag und Nacht.
Als wir beide gerade dabei waren,
die Evolution zu beobachten, holte sie mich selbst ein.
Warum also sollte es mir arg sein ?"
Zhunangzi
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Die Nonne Chiyono studierte jahrelang
aber konnte keine Erleuchtung finden.
Eines Abends trug sie einen alten Eimer voll mit Wasser.
Während sie ging, beobachtete sie den Vollmond,
sich im Wasser des Eimers spiegeln.
Plötzlich rissen die Bambusstreifen,
die den Eimer zusammenhielten,
und das Gefäß brach auseinander.
Das Wasser schoß heraus,
das Spiegelbild des Vollmonds verschwand -
und Chiyono wurde erleuchtet.
Sie schrieb folgendes Gedicht:
Auf diese und auf jene Art
wollte ich den Eimer zusammenhalten,
hoffend, der schwache Bambus
werde nie reißen.
Plötzlich fiel der Boden heraus.
Kein Wasser mehr -
kein Mond mehr im Waser.
Leere in meiner Hand.
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Nach dem Regen
Die Vögel zwitschern, die Mücken
Sie tanzen im Sonnenschein,
Tiefgrüne feuchte Reben
gucken ins Fenster herein.
Die Tauben girren und kosen
Dort auf dem niedern Dach,
im Garten jagen spielend
die Buben den Mädchen nach.
Es knistert in den Büschen,
es zieht durch die helle Luft
das Klingen fallender Tropfen.
Der Sommerregenduft
Gedicht-Sommerregen von Ada Christen (1839-1901 )